Johannes Calvin (1509-1564) - D

[Songdan]

http://www.weinreichpeter.de/wissen/geschichte/neuzeit/konfessionelleszeitalter3.htm

Nijenhuis, Willem, Calvin, TRE 7, 568-592

Johannes Calvin (1509-1564)
 

Jugend und Studium (1509-1536)
 

Herkunft

- 10. Juli 1509 in Noyon geboren

- Sohn von Gérard Cauvin, Sekretär des Bischofs Charles de Hangest und Prokurator des Kathedralkapitels

- Umgang mit angesehenen Familien, daher aristokratischer Zug im Charakter

- Pfründen erworben für ein akademisches Stipendium

- kritischer Geist im Haus des Vaters:

- 1526: Konflikt mit der Kirche, exkommuniziert (1528)

- fromme Mutter
 

Ausbildung

- 1523: Collège de la Marche in Paris: Lateinstudium

- Übersiedlung in das strenge Collège Montaigu unter Pierre Tempête (Nachfolger von Noel Bédier (Beda))

- dort studierten auch Erasmus und Rabelais, später Ignatius von Loyola

- Technik der Disputation; Nominalismus; Kirchenväter

- Berührung mit dem Humanismus und reformatorischer Theologie durch seinen Vetter Olivetanus und die Familie Cop

- kein theologisches Studium

- Magister artium

- 1527/28: juristisches Studium in Orléans

- bürgerliches und kanonisches Recht

- Griechisch durch Melchior Wolmar

- nachhaltige Eindrücke durch Pierre de l'Estoile

- Einführung in den Humanismus durch Mitstudenten François Daniel und Nicolas Duchemin

- 1529: hörte in Bourges den berühmten italienischen Juristen Andrea Alciati

- erste Publikation: Vorwort in der »Antapolagia« (1531) von Duchemin gegen Alciatis Angriffe auf de l'Estoile

-> dauerhafter Einfluß der Rechtsstudien bewirkten große Bedeutung des Kirchenrechts und der Kirchenordnung in der Ekklesiologie Calvins

- 1531: Rückkehr nach Paris: humanistische Studien am Collège Royal (gegründet von Franz I.)

- alte Sprachen und klassische Philologie

- Anfänge der hebräischen Sprachkenntnisse

- Kommentar zu Senecas »De clementia« (1532): Verbesserung und Ergänzung von Erasmus' Seneca-Ausgaben

- Anwendung der exegetischen Methode: grammatische Textanalyse, historische Interpretation, philosophische und philologische Differenzierungen

- Kommentaren sind typisch humanistisches Werk, noch kein stoischer oder reformatorischer Einfluß

- Kritik an kirchlichen Mißständen, aber noch kein Bruch mit der Kirche aus Ehrfurcht (so Calvin)

- 1533/1534: Übergang vom humanistischen Reformkatholizismus zur Reformation

- Calvin: subita conversione; subito nicht 'plötzlich', sondern 'unerwartet', d.h. ausschließlich das Werk des Heiligen Geistes und nicht aus menschlichen Erwägungen (Damaskus-Erfahrung des Paulus)
 

Flucht Calvins und Nicolaus Cop (1533)

- nach erasmianisch und lutherisch gefärbter Rede von Nicolaus Cop, des Rektors der Universität Paris; höchstwahrscheinlich Beteiligung Calvins

- Flucht mit Cop unter dem Pseudonym Charles d'Espeville

- Aufenthalt in Angoulême bei Louis du Tillet

- Bekanntschaft mit Faber Stapulensis am Hof Marguerites d'Angoulême, der Königin von Navararra

- Schrift: »De Pschychopannia«: Streitschrift gegen Spiritualisten (Seelenschlaf des verstorbenen Menschen bis zum Jüngsten Gericht)

- 1534: Verzicht auf die Pfründen in Noyon

- Mai 1534: Affaire des Placards: Flucht mit du Tillet über Straßburg nach Basel
 

Calvin in Basel (Januar 1536)

- Schrift: »Christinae religionis Institutio«: Katechismus 

- in einer einfachen Form in Rücksicht auf geringe Kenntnis der Leser

- traditionelle Stoffanordnung: Dekalog, Apostolisches Glaubensbekenntnis, Vaterunser, Sakramente der Taufe und des Abendmahls; über die fünf falschen Sakramente und über die christliche Freiheit

- auch apologetische Zwecke: Vorwort ist Brief an Franz I.: Verteidigung gegen den Vorwurf, daß die Reformation revolutionäre Absichten gegen Kirche und Staat hege

- die reformatorische Lehre ist nicht neu und häretisch, sie gründet auf der Schrift, steht in Übereinstimmung mit den Kirchenvätern, keine Bedrohung der Ordnung wie die Täufer; daher Anspruch auf königlichen Schutz gegen Verfolgung
 

erste Genfer Periode (1536-1538)
 

Einladung von Guilleaume Farel

- bei Übernachtung in Genf nach letzter Reise in Frankreich unerwartete Einladung von Farel zur Mitarbeit am Aufbau der Kirche

- 25. Mai 1536: Einführung der Reformation in Genf

- August 1536: Calvin als Lektor an der Kathedrale St. Peter: Auslegung der Paulus-Briefe

- E.1536: Prediger als theologischer Autodidakt

- Oktober 1536: Disputation in Lausanne: patristische Kenntnisse
 

Kirchenordnung durch Calvin

- 16. Januar 1537: »Ordonnances ecclésiastiques« dem Rat übergeben

- monatliche Feier des Abendmahls; strenge Disziplin durch Aufseher (Älteste) überwacht

- Bindung an das Bekenntnis durch Unterschrift

- Regelung des Psalmengesangs und der Katechese der Kinder

- Herausgabe eines Bekennntnisses und Katechismus

- Widerstand 

- in der Bevölkerung: Verweigerung der Unterschrift

- des Rates gegen die censura morum; dadurch würde die Kirche eine stärkere Stellung gegenüber der Obrigkeit bekommen

- bis 155 umstritten, ob der Staat (wie in Zürich oder Bern) oder die Kirche die Aufsicht über die Sittenzucht bekommt
 

Ausweisung von Calvin und Farel aus Genf (Ostern 1538)

- gegenseitige Beschuldigung zwischen Calvin und dem Lausanner Pfarrer Caroli

- Mai 1537: Synode spricht Calvin und Farel von der Anklage des Arianismus frei

- dennoch Schwächung ihrer Autorität

- Ostern 1538: Ausweisung aufgrund eines untergeordneten Konflikts über die Einführung von liturgischen Gebräuchen
 

Aufenthalt in Straßburg (1538-1541)
 

Aufnahme von Impulsen in Straßburg

- Farel nach Neuchâtel

- Calvin auf Bitte Bucers als Pfarrer in französischen Flüchtlingsgemeinden in Straßburg tätig

- Freundschaft mit dem Humanisten Johannes Sturm

- Bekanntschaft mit dem täuferischem Christentum

- 1540-49: Ehe mit Idelette de Bure

- Calvins Kirchenorganisation:

- Abendmahlszucht durch vorheriges seelsorgerisches Gespräch

- Impulse aus der Straßburger Liturgie für eigene liturgische Ordnung

- August 1539: zweite Ausgabe der »Institutio« als Lehrbuch für Theologiestudenten

- März 1540: Kommentar zum Römerbrief
 

Bekanntschaft mit der deutschen Reformation

- Bekanntschaft mit Bucer und Capito

- Sympathie für Bucers Einheitsstreben, hält ihn jedoch für zu kompromißbereit

- 1539: Delegierter Straßburgs auf der Frankfurter Konferenz von Vertretern der evangelischen und römisch-katholischen Länder

- Bekanntschaft mit Melanchthon

- Hoffnung auf Versöhnung von Lutheranern und Reformierten in der Abendmahlskontroverse

- Teilnahme Calvins an den Religionsgesprächen in Worms (1540/41) und auf dem Reichstag in Regensburg (1541)

- Unterzeichnung der Confessio Augustana Variata

- gegen Kompromisse und daher den Gesprächen skeptisch gegenüberstehend

- Teilnahme um Kontakt zu den deutschen Fürsten zu bekommen; Interesse für Allianz mit Franz I. zu wecken und so den Protestanten in Frankreich Hilfe zu verschaffen
 

Zweite Genfer Periode (1541-1564)
 

Unruhen in Genf (1539/40)

- Gefahr der Spaltung der Genfer Kirche: Guillermins (Anhänger von Farel und Calvin) waren Gegner von deren Nachfolgern

- Calvin in einem Brief aus Straßburg gegen ein Schisma: die Gültigkeit der Amtsführung ist nicht von der Person, sondern von der Predigt und der Verwaltung der Sakramente abhängig; Unvollkommenheiten in Lehre und Leben müssen ertragen werden

-> Beispiel für Calvins ökomenische Gesinnung

- August 1540: Guillerins gewinnen die Oberhand; bitten um die Rückkehr Calvins (20. Oktober)

- 13. September 1541: Rückkehr Calvins nach Genf nach langem Zögern

- Vorlage seiner Kirchenordnung
 

Ordonnances ecclésiastiques (Kirchenordnung Calvins) (1541)

- vier Ämter: Pasteur, Docteur, ancien, diacre

- Pfarrer: Predigt, Sakramentsverwaltung, Kirchenzucht zusammen mit den Ältesten

- docteurs: Unterweisung der Jugend und später theologische Ausbildung

- Älteste: Ernennung auf Vorschlag der vénérable compagnie des pasteurs durch den Rat und anschließende Zustimmung

durch die Gemeinde

- mit den Pfarrern im consistoire für die Sittenzucht der Gemeindeglieder zuständig

- Älteste waren Mitglieder der drei politischen Verwaltungskörperschaften (Kleiner Rat, Rat der Sechzig, Rat der Zweihundert)

- sie repräsentierten den Einfluß der Obrigkeit in der Kirche

- Diakon: Sorge für Arme und Kranke und Verwaltung der Gelder für karitative Zwecke

- Bestimmungen über Tauf- und Abendmahlspraxis, Eheeinsegnung, Besuch bei Kranken und Gefangenen, Katechese der Kinder

- Kinderkommunion mit elf Jahren

- dafür Kinderkatechismus: abécédaire

- 1542: Umarbeitung der Straßburger Liturgie

- 1542: zweiter Katechismus: Umkehrung der lutherischen Reihenfolge Gesetz-Glaube-Gebet in Glaube-Gesetz-Gebet

- in Frage- und Antwortstruktur abgefaßt
 

Lehr- und Kirchenzucht

- Lehrzucht: Überwachung der Lehre der Prediger

- Sittenzucht: Überwachung des Lebens der Bürger

- dabei Vorgehen ohne Ansehen der Person

- Beispiel: öffentliche Buße des Spielkartenfabrikanten und Ratsmitglieds Pierre Ameaux (1546)

- Enthauptung Jacqes Gruet wegen des Verdachts politischer Konspiration (1547)

- Hinrichtungen aus Hexenwahn

- Aufsicht der Ältesten über bestimmte Stadtbezirke

- Strafen für: Ehebruch, Prostitution, gesetzwidriges Heiraten, Fluchen und Spotten, unerlaubtem Luxus, leichtsinnige Lebensführung, unehrbietiges Betragen in der Kirche, römische Überbleibsel, z.B. der Besitz katholischer Bücher

- Gründe für Kirchenzucht:

- Bedrohung Genfs durch Savoyen

- lockere Lebensweise wie im Florenz Savonarolas

- dennoch fraglich, warum Calvin seine eigene Vorstellung von der Ordnung der Gesellschaft mit dem Willen Gottes identifizierte: Errichtung einer Bibliokratie
 

Widerstand gegen Calvin durch die 'Patrioten'

- vor allem Calvins früherer Anhänger Ami Perrin

- Name Patrioten im bewußten Gegensatz zu den Francillons, den französischen Immigranten, die Calvin unterstützten

- nationalistische Reaktion bei der altgenfer Bevölkerung

- Calvinisten nannten Anhänger Perrins 'libertins' wegen ihrer sittlichen Lebensweise
 

Konflikt zwischen Stadtrat und Kirche bis 1555

- 1553: Höhepunkt des Konflikts um Philipp Berthelier 

- der Stadtrat hob die Exkommunikation Bertheliers auf

- Calvin drohte mit dem Verlassen der Stadt

- der Stadtrat bestrittm dem consistoire immer wieder das Recht, Menschen vom Abendmahl auszuschließen

- von Bern aus wurde feindliche Stimmung gegen Calvin geschürt

- 1554/55: Stadtratsmehrheit für die Anhänger Calvins

- Mai 1555: Flucht der führenden Gegner Calvins nach Bern nach einer unterdrückten antifranzösischen Kundgebung

- Hinrichtung eines Familienmitglieds der Bertheliers

-> größere Selbstständigkeit des consistoire gegenüber dem Stadtrat auch durch den Einfluß französischer Immigranten
 

Lehrzucht durch conférence de l'Écriture que nous appelons Congregation

- wöchentliche Veranstaltung: Pfarrer mußten die Auslegung eines Schriftabschnitts dem Urteil der Anwesenden unterwerfen

- dialektische Spannung von kritischer Wachsamkeit für die richtige Lehre und einer ausgeprägten Toleranz für abweichende Schulmeinungen

-> Nijenhuis: Calvin war einer der großen Ökumeniker der Zeit
 

Kontroverse mit Sebastian Castellio

- Castellio: Rektor der Lateinschule, bewarb sich um Pfarramt

- Konflikt über das Hohe Lied: für Castellio ein profanes Liebeslied; und über den Abstieg Christi zu den Toten als Ausdruck der Leiden Christi

- Rücktritt Castellios vom Amt des Rektors

- Calvin erteilte trotz der dogmatischen Differenz ihm ein hohes Lob

- Calvin beurteilt Bücher von Melanchthon positiv, trotz abweichender Auffassungen über Prädestination und Willensfreiheit
 

Prozeß gegen Michel Servet (1553)

- 1531: Servet griff Trinitätslehre an: Dreieinigkeit ist ein Monstrum mit drei Köpfen

- Verhaftung Servets in Vienne: Calvin versorgte die Inquisition mit belastenden Dokumenten und konnte so sicher sein, daß Servet zum Tode verurteilt würde

- Flucht Servets nach Genf: dort gemäß der Carolina verurteilt und hingerichtet

- Einverständnis von Melanchthon und anderen Schweizer Kirchen

- Calvin versuchte Scheiterhaufen in Enthauptung umzuwandeln

- Castellio: Plädoyer gegen die Tötung von Ketzern und für Toleranz

- aber auch Hinrichtung von Ketzern bei Gotteslästerung gestattet

- Calvin und Castelli einig darin, daß Atheisten und Gotteslästerer hingerichtet werden müssen
 

Genf als ökomenisches Zentrum

- an der Handelsstraße von Süddeutschland nach Lyon und Marseille

- Flüchtlinge aus Frankreich, England, Schottland, Niederlanden, Italien

- internationaler Charakter von Genf

- 1559: Gründung der Akademie

- später juristische, philosophisch-mathematische und medizinische Fakultät angefügt
 

internationale Kontakte Calvins

- ausgedehnter Briefwechsel mit Magistraten, Kirchen, Theologen in ganz West- und Mitteleuropa

- gab gefragt oder ungefragt Ratschläge politischer, organisatorischer und seelsorgerlicher Art

- Zustimmung zu Bucers Versuch, die Wittenberger und Zürcher Reformation in der Abendmahlslehre zu versöhnen

- aber gegen Zwinglis Abendmahlslehre: kein Trost, da fehlende Realpräsenz Christ im Sakrament

- intensive Korrespondenz mit Bullinger

- Bullinger: doppelte Prädestination ist spekulativ
 

Consensus Tigurinus (1549)

- in Calvins Abendmahlslehre kam Auffassung der Zwinglianer und Lutheraner zur ihrem Recht

- durch Calvins Bemühen kam es zum Consensus Tigurinus: keine symbolische Abendmahlsauffassung

- Konsens zwischen Genf und Zürich

- Geburtsurkunde des reformierten Protestantismus

- Vertiefung des Abendmahlstreits mit Lutheranern
 

Ökumenische Anstrengungen Calvins (1556-59)

- 1554: Angriffe J. Westphals auf die Genfer als Sakramentierer

- Calvins Aufruf zur Glaubenseinheit zwischen Lutheranern und Reformierten

- Versuche Calvins, mit Lutheranerner ins Gespräch zu kommen

- Ziel war auch, deutsche Hilfe für die verfolgten Hugenotten zu bekommen

- Versuche, die Reformation in England zur Regierungszeit Eduards VI. und Elisabeths I. in seinem Sinne zu fördern

- Forderung nach Einheit aller reformatorischen Kirchen

- Grenzen von Calvins Einheitsstreben lagen einerseits bei der römischen Kirche und andererseits bei Spiritualismus und Antitrinitarismus
 

Unterstützung der Protestanten in Frankreich

- Aufnahme Verfolgter, Briefe an Gefangene

- Ratschläge beim Aufbau reformierter Kirchen

- Prägung der Kirchenordnung und des Bekenntnis der église réformée (Pariser Synode 1559)

- gegen Gewaltanwendung: gegen die Verschwörung von Amboise (März 1560)

- Zurückhaltung auch nach dem mißlungenen Kolloquium von Poissy (1561) und dem Blutbad von Vassy (März 1562)

- Folge: bewaffneter Widerstand unter Führung von Louis de Condé und Antoine de Bourbon

- finanzielle Hilfe für Führer des ersten Religionskrieges (1562-63)

- zunehmend antimonarchischer Ton in Calvins Schriften
 

Tod Calvins (27. Mai 1564)

- Krankheiten wie Tuberkulose, Rheumatismus, Nierensteine und Darmstörungen

- begraben auf dem Friedhof von Plainpalais an unbekannten Ort um Reliquienkult zu vermeiden
 

Werk Calvins
 

Theologie
 

'Theologie auf dem Wege'

- in Auseinandersetzung mit Servet, Caroli, Bucer

- großer Einfluß des Straßburger Aufenthalts

- Calvin verstand sich als Schrifttheologe

- Entwicklung der exegetischen Methode

- gegen allegorische Auslegung 

- als Vertreter des französischen biblischen Humanismus für genaue philologische Arbeit
 

Quellen

- Verschmelzung von Traditionen aus Ost und West, des Humanismus und der Reformation

- dialektische Denkweise

- Kenntnisse der Antike

- Kenntnisse der Kirchenväter: Augustin, Cyrill von Alexandrien, Johannes Chrysostomus

- höchste Norm aber Bibel

- Kritik an der Scholastik wegen ihres spekulativen, philosophischen und wenig christuszentrierten Charakters, wegen der Gnadenlehre und des Sakramentsverständnisses

- Zustimmung zu Bernhard von Clairveaux, aber möglicherweise mißverständliche Auffassung

- Luthers Theologie: Rechtfertigungslehre, Christologie, Ekklesiologie

- gegenüber Zwingli Vorbehalte, trotz sonstiger Verwandtschaft der Lehre

- Bucer: Ekklesiologie, Ämterlehre, Liturgie, Kirchenzucht
 

Gotteserkenntnis

- praktischer Charakter der cognitio Dei: keine Spekulation über Gott, sondern Unterweisung geben über Gott

- von Philosophie macht er nur historischen Gebrauch: zur Illustration der Wahrheit, nicht als Quelle der Wahrheit

- Glaubwürdigkeit der Schrift nicht durch äußere Autoritätsinstanz (Kirche), sondern durch Zeugnis des Heiligen Geistes

- entgegen den Spiritualisten: kein Wirken des Geistes am Wort Gottes vorbei
 

Christologie

- Zwei-Naturen-Lehre: entgegen Luther Unterscheidung der beiden Naturen Christi, ist aber kein Nestorianer

- Mittleramt Christi in der Vereinigung der Menschen mit Gott

- Bund zwischen Gott und den Menschen:

- Unterscheidung des alten und des neuen Bundes nicht in substantia, sondern in administratione:

- Gabe von irdischen Gütern des Landes zur der des ewigen Reiches Gottes

- als figura zur veritas

- als Gesetz zum Evangelium

- als Ökonomie der Knechtschaft zur Ökonomie der Freiheit

- als auf ein Volk (Israel) beschränkte zur universal für alle Völker bestimmten Ordnung

- positiver Stellenwert der Juden als notre allié et conféderé
 

Pneumatologie

- Unterscheidung der Heiligung von der Rechtfertigung

- Leben durch den Geist: regeneratio, poenitentia, Selbstverleugnung, Kreuztragen, meditatio futurae vitae
 

Ekklesiologie

- anfangs Unsichtbarkeit der Kirche

- Verworfene und Erwählte sind allein Gott bekannt

- später, mit mehr Verantwortung für die Organisation der Kirche, gewinnt die Sichtbarkeit an Bedeutung

- dennoch dialektische Spannung zwischen der Kirche als sichtbarer Institution und der Kirche als populus electorum Dei

- Bedeutung der disciplina (Kirchenzucht) ist groß, aber nicht so groß wie Predigt und Sakrament

- Bedeutung des Sakraments: äußeres Zeichen der Gnade Gottes zur Stärkung des Glaubens und als Beweis des Glaubens der Menschen gegenüber Gott

- Abendmahlslehre: allein Heiliger Geist stellt die Gemeinschaft zwischen Christus und den Kommunikanten her

- Ablehnung sowohl der Identifikation von signum und res wie in der katholischen Lehre als auch einer Trennung von signum und res wie bei Zwingli
 

Staatslehre

- politica administratio gehört zu den externe media ad salutem

- gegen die mittelalterliche Sicht: Staat ist der Kirche untergeordnet

- gegen täuferische Sicht: Ablehnung der bürgerlichen Regierung

- Zwei-Reiche-Lehre: geistliches Reich Christi und weltliches Reich der bürgerlichen Ordnung

- aber keine so scharfe Trennung der beiden wie bei Luther

- Kirche und Staat haben eigene Funktion in Gottes Weltlenkung

- Calvins Gesellschaftsverständnis als Ellipse mit zwei Brennpunkten

- selbstständige Funktion des Staats sind die Loslösung von Ehe und des Unterrichts aus der Vormundschaft der Kirche

- aber keine völlige Autonomie oder religiöse Neutralität des Staats

- Aufgabe des Staats: Schutz der beiden Tafeln des Gesetzes

- erste Tafel: Religion, d.h. die reformierte Religion

- zweite Tafel: Sittengesetz

- Frage der Staatsform war für Calvin sekundär

- aber zunehmend kritische Haltung gegenüber der Monarchie, da leicht zur Tyrannis neigend

- Vorzug der aristokratischen Regierung mit oder ohne Beimischung einer bürgerlichen Selbstverwaltung

- Theorie eines Widerstandsrechts nur ansatzweise

- individuelle Untertanen haben nur ein passives Widerstandsrecht, wenn die Forderungen der Obrigkeit mit Gottes Geboten unvereinbar sind: 'Wenn sie etwas befehlen, was wider ihn ist, dann darf das keinen Raum und keine Gewicht haben. Und wir haben uns an die ganze Würde, mit der die Obrigkeiten bekleidet sind, nicht zu kehren; ihr geschieht kein Unrecht, wenn sie, angesichts jener einzigartigen und wahrhaft höchsten Macht Gottes zur Ordnung gezwungen wird.'

-> damit war die Grenze zwischen passiven und aktiven Widerstand leicht zu überschreiten: z.B. französische Religionskriege, niederländischer Aufstand, englische Revolution

- Calvin hielt sich als Regel an ein bei den Landständen liegendes Widerstandsrecht, das moderandum regum libidinem dienen sollte; entsprechend dem positiven Staatsrecht
 

Einfluß
 

neuer Kirchentyp

- gegenüber den drei bestehenden Typen: 

- katholische Kirche: Autoritätsanspruch gegenüber weltlicher Obrigkeit aufrechterhalten

- englische Staatskirche (seit 1532)

- Luthertum: Entwicklung des Landeskirchentums

- Kirche bei Calvin:

- Kirche als selbstständiges Gegenüber des Staates

- aber Funktion des Staates respektiert

- dadurch Emanzipation beider

- amtlicher Charakter der Kirche

- Aufgabe des Presbyterats: disciplina = Kirchenleitung und Lehr- und Sittenzucht

- Diakonat: vom Staat unabhängige soziale Verantwortung

-> nicht-monarchische, von amtlichen Versammlungen ausgeübte Kirchenleitung

- ähnlich strukturiert wie der Stadtstaat wie Genf

- Aufbau in Flächenstaaten mit Konsistorium als Basis, darüber die Classis (colloque, presbytery) und die Provinzial- bzw. Nationalsynode

- dieser Kirchenaufbau impliziert ein hohes Maß an Mitverantwortung der theologisch nicht geschulten Laienglieder

- anfangs noch soziologische Schranke, da die Laien aus einer bestimmten Gesellschaftsklasse rekrutiert wurden: in Frankreich adelige Familien; in den Niederlanden Unterschichten; in England die gentry und der emanzipierte Kaufmannsstand

-> Presbyterialverfassung: Keim zum Priestertum aller Gläubigen
 

Verbreitung des Calvinismus in Frankreich seit 1559

- Juni 1559: Eröffnung der Akademie zur Deckung des Pfarrerbedarfs in Frankreich und Europa

- April 1559: Frieden von Câteau-Cambrésis zwischen Frankreich und Spanien: Beginn der Gegenreformation in beiden Ländern

- geistiger und militärischer Widerstand der Reformierten in Frankreich und den Niederlanden

- unter der Regentschaft Katharinas von Medici während der Regierung von Franz II. (1559-1560) und Karl IX. (1560-1574) scharfe Maßnahmen gegen Hugenotten

- ca. 1/3 der Franzosen Anhänger der reformierten Religion

- 1559: Beginn des militärischen Widerstandes gegen Gewalttaten der Guises durch Adelige Gaspard de Coligny und seinen Bruder François d'Andelot

- war nach Calvins Grundsätzen legitim; Unterstützung der französischen Reformierten von Genf aus

- 1562-1593: acht Religionskriege

- 1598-1685: Edikt von Nantes: offizieller Status der reformierten Religion in Frankreich

- Aufbau weiterer Akademien in Sedan, Montpellier, Montauban, Saumur
 

Niederlande

- 1559: Neueinteilung der Bistümer in den Niederlanden durch Philipp II.

- politische und kirchliche Vorteile

- aber Widerstand wegen des gestärkten Zentralismus

- Widerstand gegen den von Spanien eingesetzten Primas der niederländischen Kirche, Granvelle, Erzbischof von Mecheln

- Stärkung des Calvinismus erst in den südlichen, dann in den nördlichen Niederlanden

- Denkmal des reformierten Glaubens wurde die von G. de Brès verfaßte Confessio Belgica (1561)

- nationaler Widerstand des katholischen und protestantischen Adels und der reformierten Kirche

- Pfalz in Deutschland als erste reformiertes Territorium
 

England

- Puritanismus in England orientierte sich am Calvinismus

- Aufbau presbyterianischer Kirchen

- zunehmend politische Bedeutung des Prinzips der Gleichheit und der Ablehnung der hierarchischen Ordnung

- Puritaner wurden, obwohl zunächst nicht monarchisch gesinnt, als Revolutionäre abgelehnt

- im 17.Jh. Phänomen des politischen Puritaners, der in der englischen Revolution (1642) seine Prinzipien gegen episkopalen und monarchischen Absolutismus vertrat
 

Calvinismus und Demokratie

- Calvin selbst war Aristokrat; Genf eher oligarchisch als aristokratisch

- dennoch war Calvinismus Nährboden für demokratische Verhältnisse

- Reformation im Sinne Calvins oft Hand in Hand mit revolutionären Bewegungen

- Calvinismus geboren und großgeworden im Kampf gegen den fürstlichen Absolutismus: gegen Savoyen in Genf, Valois-Orléans in Frankreich, Habsburg in den Niederlanden, Tudor und Stuart in England und Schottland

- Struktur des Calvinismus war demokratischen Entwicklungen förderlich: Fehlen hierarchischer Elemente und monarchischer Züge

- Teilnahme des Laien an der kirchlichen Willensbildung als Beitrag zum gesellschaftlichen Mündigwerden des Individuums

- im Gegensatz zu den Täufern (dort ähnliches Gemeindechristentum) war der Calvinismus immer ein politischer Faktor mit Gewicht
 

Calvinismus und Kapitalismus

- Theorien über Zusammenhang von Calvinismus und der Entstehung des Kapitalismus sind überholt

- Webers Auffassung von der innerweltlichen Askese enthält ein Wahrheitsmoment

- calvinistische Ethos der Genügsamkeit und Arbeitsamkeit, Sonntagsheiligung, ein gewisses Maß von Gesetzlichkeit haben die moderne Gesellschaft bis vor kurzem geprägt
 

Calvinismus und Toleranz

- kein Beitrag des Calvinismus für aktive Toleranz aufgrund seines theokratischen Gesellschaftsverständnisses

- aber Beitrag zur passiven Toleranz aufgrund seines jahrhundertelangen Widerstandes gegen jede Form von Staatsabsolutismus
 

---

Schilling, Horst (1988): 271-272
 

Genf als protestantisches Gegenrom

- Calvinismus als geschlossenes System, wie keine anderer protestantische Richtung

- Calvin: Nüchternheit, Rationalität, Glaubenseifer

- lebenslustige Bischofsstadt zur Zitadelle eines neuen, von allen Resten mittelalterlichen Papalismus gereinigten Protestantismus

- Staat hatte der Kirche zu dienen

- Presbyterium als höchstes Regierungsgremium der Genfer Theokratie

- mit Theologen und Laienältesten besetzt

- mit dem Rat personell eng verzahnt

- zuständig für Sitten- und Lehrzucht; für Innen- und Außenpolitik

- Flüchtlinge aus ganz Europa nach Genf

- Hugenotten aus Frankreich

- niederländische Exulanten

- frühe Puritaner aus England

- Schotten: John Knox

- Polen, Böhmen, Ungarn

- Calvin hielt weitverzweigte politische Korrespondenz mit Fürsten, Königen, Aristokraten und Ratsmitgliedern

-> aggressive Variante des Protestantismus von internationalem Zuschnitt

- Ausbreitung in ganz Europa: Frankreich, Niederlande, England, Schottland, Polen, Böhmen, Ungarn, Siebenbürgen

- in Deutschland mehr gegen das Luthertum gerichtet als gegen den Katholizismus
 

Annäherung zwischen Calvinisten und Zwinglianern

- zunächst Vermittlung Calvins zwischen Lutheranern und Zwinglianern, vor allem in der Abendmahlsfrage

- dann Einschwenken Calvins auf Schweizer Linie, dadurch Sammlung aller nichtlutherischen Protestanten

- Unterschiede zum Zürcher Kirchentum:

- von weltlicher Obrigkeit unabhängige Kirchenorganisation (Gemeindeautonomie) <-> Zürich: Staatskirchentum

- extremer Biblizismus, Prädestination- und Föderaltheologie
 

Gemeindeorganisation: Presbyterial-synodale Ordnung

- Einzelgemeinde ist im vollen Sinne Kirche

- Regierung durch Presbyter

- Zusammenschluß von Nachbargemeinden zu Synoden

-> presbyterial-synodale Ordnung befähigt zur Selbstbehauptung in der Diaspora und unter feindlicher Obrigkeit

-> durch Distanz zum Staat förderte der calvinistische Kirchenaufbau mit Gleichberechtigung seiner Glieder eine politische Kultur, die den Übergang zur Demokratie und Parlamentarismus erleichterte

-> Föderaltheologie: Bund (foedus) zwischen Gottesvolk und dem Herrn hat eine innerweltliche Parallele im Vertragsmodell, daß Autokratie und Absolutismus schwächt

- in Deutschland kaum wirksam, da der Calvinismus nur auf wenige Gebiete beschränkt war; selten gemeindeautonome Organisation, sondern wie das Luthertum dem landesherrlichen Kirchenregiment unterstellt

- Ausnahme: multikonfessionelle Gebiete am Niederrhein und in Ostfriesland
 

Prädestinationslehre

- Lehre von der durch den Menschen nicht mehr beeinflußbaren göttlichen Gnadenerwählung

- aufgrund alttestamentarischen Gottesbildes: Herrschaft Gottes zu absoluter Souveränität und Allgewalt gesteigert

- innercalvinistischer Streit über den Zeitpunkt der Erwählung zu Heil oder Verdammnis: 

- Infralapsisten: nach dem Sündenfall der Menschheit (versöhnliche Sicht) 

- Supralapsisten: vor dem Sündenfall; dadurch ist der Sündenfall bereits vorbestimmt gewesen und die Welt aufgrund des Willen Gottes aufgespalten in Ordnung der Gnade und der Verdammnis

- Folge war nicht Lähmung und Fatalismus, sondern ruheloser Aktivismus und unermüdliche Weltbetriebsamkeit

- Weber: Prädestinationslehre Calvins wird zum Angelpunkt des modernen Kapitalismus

- ökonomischer Erfolg als Bestätigung für die Erwähltheit

'Die religiöse Wertung der rastlosen, stetigen, systematischen weltlichen Berufsarbeit als schlechthin höchsten asketischen Mittels und zugleich sichtbarster Bewährung des wiedergeborenen Menschen [...] mußte [...] der denkbar mächtigste Hebel der Expansion jener Lebensauffassung sein, die wir hier als 'Geist' des Kapitalismus bezeichnet haben. Und halten wir nun noch jene Einschnürung der Konsumtion mit dieser Entfesselung des Erwerbsstrebens zusammen, so ist das äußere Ergebnis naheliegend: Kapitalbildung durch asketischen Sparzwang.'

-> Calvinismus als Grundlage des Kapitalismus: Erwerbsstreben zur Bestätigung der Erwähltheit, Arbeit als Mittel der Askese; Konsumverzicht als Askese
 
 
 

---

Lutz (1991): 66-68
 

Konfessionalismus

- neuartige kirchenpolitische und religionsoziologische Lebensform

- Konfession: nach Lehre, Liturgie und Organisation eindeutig abgegrenzte Teilkirchen, die gegeneinander mit dem Anspruch auf Alleinvertretung der christlichen Wahrheit auftreten

- Systemzwang zur Abgrenzung, straffe Organisation, Intoleranz
 

Drei Konfessionen

- Ende der via media durch den Religionsfrieden, da nur Lutheraner und Katholiken unter Schutz des Reiches

- konfessionelle Situation Europas M.15.Jh.: kein Bikonfessionalismus, sondern Spaltung des Protestantismus

- Spaltung des Protestantismus von Calvin nicht überwunden, sondern verschärft durch: 

- kämpferischer, dynamischer Protestantismus der zweiten Generation

- Ziel: Überwindung der Halbheiten der lutherischen Reformation

- zunehmend härtere Gegenwirkung der Papstkirche
 

Calvins Lebensweg

- Sohn eines Juristen

- juristische und humanistische Bildung

- Kenntnis der Schriften der deutschen Reformatoren

- Flucht aus Frankreich angesichts zunehmender Protestantenverfolgung

- 1535: »Institutio religionis Christinae«: will Franz I. für die Reformation gewinnen

- 1536-1538: in Genf mit Farel

- 1538-1541: in Straßburg mit Capito, Bucer: Vertreter des oberdeutschen städtischen Protestantismus

- 1540/1541: auf den Religionsgesprächen in Worms und Regensburg; Bekanntschaft mit Melanchthon

- 1541-1564: Genf
 

Genf als Modell der christlichen Gemeinde

- 1541: Gemeindeordnung »Ordonnances Ecclesiastiques«

- Regelung des Gottesdienstes, der Kirchenorganisation und Kirchenzucht

- Durchsetzung der Ehre Gottes durch Verbindung von reiner Lehre und Gemeindezucht

- Pastoren, Lehrer, Diakone und Älteste

- Gemeinsamkeit mit dem Zwinglianismus: totale Verchristlichung des Gemeinwesens:

- Hauskontrollen, Sittengericht, Verbot von Tanz und Kartenspiel

- Unterschied zum Zwinglianismus:

- Zwinglianismus: Staatskirche

- Calvinismus: Gemeindeautonomie; Überordnung der Kirche über den Staat (Theokratie); die bürgerliche Obrigkeit hat ähnlich dem Modell des Alten Bundes auf die Weisungen der Propheten Gottes zu hören
 

Calvinismus in Europa

- Genfer System kannte keine Toleranz

- Krisen bis 1555

- 1549: Consensus Tigurinus: Verständigung mit den zwinglianischen Gemeinden in der deutschen Schweiz

- Veränderung der Genfer Bevölkerung durch Glaubensflüchtlinge

- calvinistische Werbung durch Rücksendung in Genf ausgebildeter Theologen

- 1559: Gründung der theologischen Akademie unter Leitung von Theodor Béza

- Orientierung an Genf:

- 1559: französischer Protestantismus

- die schottische 'Confession of faith' unter John Knox

- die niederländische 'Confession des Pays-Bas'

- 1567: die ungarische Nationalsynode von Debrecen

- 1563: der Heidelberger Katechismus der Kurpfalz

- 1553: Calvin kritisiert die Kompromißbereitschaft der deutschen Protestanten

- dogmatische Differenzen: Abendmahls- und Prädestinationlehre strittig

- Calvins Vorwurf politischer Mutlosigkeit

- 1555: partielle Wende:

- angesichts verstärkter Unterdrückung in Frankreich verstärkt Werbung in Osteuropa (Polen, Ungarn)

- angestrebte Verständigung mit dem deutschen Luthertum, um Basis für Ostmission zu haben

- in Deutschland nur Minderheit calvinistisch, allerdings politisch und kulturell sehr aktiv:

- Kurpfalz, Nassau, Anhalt, Lippe, Bremen

- in Kursachsen und anderen lutherischen Ländern scharfes Vorgehen 'Kryptocalvinisten' (Todesstrafe)

- Ausspielung der reichsrechtlichen Privilegierung der CA gegen die Sakramentierer

-> zweite Reformation im Reich in kirchlichen und politischen Einzelaktionen stecken geblieben

-> konservative Struktur der Reichsverfassung stand dem theologisch-kirchlichen Anliegen und der politisch-sozialen Dynamik des Calvinismus entgegen
 

politische und soziale Wirkungen

- Bedeutung des Calvinismus für ständische Widerstandsbewegungen

- in Frankreich, Niederlande, England, Böhmen, Ungarn, Österreich

- sozioökonomische Bedeutung: wirtschaftlicher Aufschwung unterentwickelter Gebiete durch Einwanderung der Calvinisten
 

---

Neuser, Wilhelm, Calvin, Berlin 1971
 

Geistesgeschichtlicher Hintergrund
 

Humanismus (5-11)

- Programm: Renaissance der antiken Philosophie

- Ziel: Reform der Sitten

- Erneuerung der Tugendlehre des Altertums

- außerdem: kirchliche Reformbewegung

- Gegenbewegung zur scholastischen Theologie

- gegen moralische Mißstände im Klerus, Veräußerlichung des Kultus

- Reform, da kirchliche Einheit wichtig
 

Gemeinsamkeit zwischen Humanismus und Reformation

- Luther vo Humanisten zunächst als Mitkämpfer betrachtet, obwohl selbst kein Humanist

- dann Abwendung von Luther, da Luther das Papsttum und die Kirchengewalt in Frage stellt

- Spaltung des Humanismus

- Erasmus: Schrift gegen Luther »Über den freien Willen« (1524)

- Melanchthon (1497-1560) schließt sich der Reformation an
 

französischer Humanismus

- Faber Stapulensis (1544-1536) bringt Humanismus aus Italien nach Frankreich

- aber nicht Vertiefung in aristotelische Gedanken wie bei Erasmus, sondern:

- Aufnahme mystischer Gedanken

- Kontemplation zur inneren Gottesschau wie bei mittelalterlichen Mystikern

- Farben- und Bildreichtum der Mystik

- Schüler: Briconnet, Clichtow, G. Roussel, F. Vatable, L. von Berquin, G. Budé, G. Farel
 

Mystik

- Mystik ist die zweite antischolastische Bewegung neben dem Humanismus vor der Reformation

- direkter Zugang zu Gott, dadurch Entwertung der Kirchenhierarchie und ihrer Institutionen

- der Laie wird auch ohne Kirche der göttlichen Offenbarung teilhaftig

- Konflikt Fabers mit der Sorbonne

- Gegner Noël Bedier, Syndikus der theologischen Fakultät

- Gönner Fabers: Franz I. (1515-47)

-> freundliche Haltung Franz I. gegenüber dem Humanis ermöglicht gewaltige Möglichkeiten für die Reformation, da Schutz vor der schroffen Gegnerschaft der Vertreter der scholastischen Theologie in Paris
 

Libertinismus

- theologischer und moralischer Libertinismus 

- aus Italien nach Frankreich

- menschliches Autonomiebewußtsein, das sich über Moralgesetze und Verantwortung im Jüngsten Gericht hinwegsetzt

- Calvin: Lucianiker, Epikuräer bezweifeln die Verbindlichkeit des göttlichen Gesetzes und die Unsterblichkeit der Seele; fördern die Sittenlosigkeit; in »De Scandalis« (1950)

- Rabelais, Dolet, Des Périers, Govéan; auch Margarete von Navarra hat Kontakte zu den Libertins

- Libertinismus als Beginn der Säkularisierung des Abendlandes
 

geistesgeschichtliche Situation und Reformation

- im Reich nur religiöser Humanismus; daher muß Luther sich hauptsächlich mit der Scholastik und vulgärkatholischer Frömmigkeit auseinandersetzen

- gegen Gesetzlichkeit, Verdienstglaube und ständige Angst vor dem Fegefeuer als Objekte der Reformation

- Antinomismus nur in der Mystik (J. Agricola, A. Osiander)

- in Frankreich dagegen Antinomismus aus 'selbstherrlichen Individualismus' (Libertinismus)

- daher muß für Calvin dem Gesetz Gottes wieder Geltung verschafft werden

-> situationsbedingter Unterschied der Theologie Luthers und Calvins: Calvin wird zum Theologen der Heiligung und Kirchenzucht
 

Theologie Calvins (110-115)
 

Calvins Verständnis der Heiligen Schrift

- konsequenter Biblizismus

- Calvin lehnte die Unterzeichnung des Athanasiums ab, da er ihm nicht dieselbe Autorität zuerkennt wie der Bibel

- biblischer Kanon nocha Calvin in der Hugenottischen Kirchenordnung von 1559

- Rückgriff auf den jüdischen Kanon, daher Ablehnung der Apokryphen des Alten Testaments

- Konzil von Trient (1546) bestätigt den hellenistischen Kanon mit ausdrücklichem Einschluß der Apokryphen

- Neuser: Calvin kein Biblizist, da kein gesetzlicher Umgang mit der Bibel
 

Trinitätslehre

- Calvin verteidigte die Trinitätslehre

- aber dennoch kein unproblematisches Verständnis der göttlichen Personen

- Dreieinigkeit ist Paradoxie: entweder werden Einheit Gottes oder die drei Personen betont

- Calvin sieht mehr die Einheit, Luther mehr die Dreiheit

- daher: Calvin: Gottsein des Menschgewordenen, Majestät Gottes; Luther: Menschwerden Gottes, Herabsteigen Gottes

- Calvin: drei göttlichen Personen nennt er Eigenschaften (proprietates), Seinsweisen (substantiae) als Wesen Gottes

- Nähe Calvins zu Servet: für Servet waren die drei Personen nur Ausstrahlungen (Emanationen) der kirchlichen Trinitätslehre
 

Prädestinationslehre

- keine zentrale Stellung in der Lehre Calvins

- Prädestinationslehre anders als bei Zwingli:

- Gottes Ratsschluß vor der Grundlegung der Welt: Entscheidung über ewiges Leben und ewige Verdammnis jedes einzelnen Menschen

- aber Gott ist nicht Ursache der Sünde, sondern der Mensch allein ist schuldig

- Vorherbestimmung zum ewigen Leben und zur Verdammnis sind nicht gleichwertig: die Verwerfung ist nur eine Grenzaussage, die unbetont bleibt

- Calvin beseitigt die Widersprüche in seiner Prädestinationslehre nicht

- so später Theodor Beza (1519-1605), der die Prädestinationslehre rein logisch aufbaute und sie zur Zentrallehre macht

- doppeltes Anliegen Calvins mit seiner Prädestinationslehre

- gegen Synergismus: gegen Mitwirken des Menschen am Heil; dies ist ganz allein Werk Gottes; Calvin gegen die Präscienz Gottes, d.h. er wisse schon, wie sich die Menschen verhalten werden und hat aufgrund dieses Vorwissens erwählt oder verworfen

- Heilsgewißheit der Glaubenden: Heil des Erwählten steht unerschütterlich fest, da schon vor der Schöpfung erwählt

- diese Erwählungsgewißheit läßt die Hugenotten das Martyriums ertragen; 

- sie gab den Puritanern unter Cromwell das Siegesbewußtsein

- aber nicht Basis für wirtschaftlichen Erfolg; dies eher durch Kirchenzucht und 'innerweltliche Askese' (Weber)
 

Sakramentslehre

- Berufung auf Augustinus: Unterscheidung von Zeichen (signum) und Sache (res), d.h. sichtbarer und unsichtbarer Gabe des Sakraments

- Brot, Wein und Taufwasser als Zeichen für die Gabe der Seele (res)

- Vorrang des Wortes im Sakrament: Sakrament ist Anhang des Worts (appendix verbi)

- Abwehr jedes dinglichen Verständnisses des Sakraments, daher wirkt das Sakrament nur bei Glaubenden
 

Abendmahlslehre

- Übereinstimmung mit Zwingli und Bucer in der Abendmahlschristologie: Leib Christi im Himmel und daher räumlich von den Glaubenden getrennt: extra Calvinisticum

- gegen Ubiquitätslehre Luthers

- Gegenwart Christi im Abendmahl ist pneumatische Präsenz

- der Heilige Geist (Pneuma) verbindet die Glaubenden im Abendmahl mit Christus

- dagegen Lutheraner: Realpräsenz Christi
 

---

Rabe: Die Anfänge des Calvinismus in Deutschland (322-327)
 

Calvin und das calvinistische Kirchentum

- reformierte Kirche von Anfang an und dauerhaft durch Calvin geprägt

- wichtige Stationen in Calvins Leben:

- durch Pfründen wirtschaftlich abgesichert

- zunächst juristische und humanistische Studien

- 1533: Lösung von der römischen Kirche unter dem Einfluß des erasmianischen Humanismus und Gewinnung reformatorischer Überzeugungen

- 1536: Flucht nach Basel: »Institution christianae religionis«: erste systematische Darstellung seiner Glaubenslehre

- 1536: von Wilhelm Farel zum Bleiben in Genf aufgefordert; für Calvin eine 'göttliche Berufung'

- 1537: Einführung strenger Sittenzucht

- 1538: Verlassen von Genf, da die Gegner im Rat die Mehrheit besaßen

- Calvin in Straßburg durch Einladung von Bucer, Capito, Sturm; Kontakte zu Melanchthon

- 1540: Rückberufung Calvins

- 1541: »Ordonnances ecclesiastiques«, Genfer Kirchenordnung; später Gottesdienstordnung und Katechismus

- jahrelanger Widerstand gegen die strenge Kirchenzucht des Reformators

- 1550: Calvins Gegner unterliegen bei den Ratswahlen; nach bewaffneten Widerstand Hinrichtung und Verbannung der Gegner
 

Theologie Calvins

- Ausgangspunkt: rechtfertigende Gnade Gottes ohne alles menschliche Verdienst

- in der Konsequenz: Gnadenwahl von Ewigkeit an: Vorausbestimmung bestimmter Menschen zur Seligkeit und zur Verdammnis

- in der Gnadenwahl den strengen Lutheranern nahestehend

- Abendmahlslehre: Nähe zu zwinglianischen Auffassungen

- Verneinung der Realpräsenz im Abendmahl (gegen Luther)

-> kirchenpolitische Folge: 1549: Consensus Tigurinus; dadurch organisatorische Vereinigung der Schweizer Kirchen unter dem bestimmenden Einfluß Calvins und unüberbrückbarer Graben zu den Lutheranern

- vollständige Beseitigung der von Luther nur vorsichtig reformierten Messe; Messe war Götzendienst für Calvin

- 1542: Genfer Gottesdienstordnung: Predigt, Gebet, Psalmengesang

- Beseitigung von Orgeln, Bildern, Kreuzen, Kerzen und Altären

- Beseitigung der Feiertage außer Weihnachten, Ostern, Pfingsten
 

Kirchenlehre Calvins

- Lutheraner gegen äußere Kirchenorganisation relativ gleichgültig

- für Calvin Kirchenordnung von Gott geboten: Kirche als sichtbare Darstellung der erwählten Gemeinde Christi

- daher Sittenzucht und Dogmenzwang

- Gewissensfreiheit galt als muslimische Irrlehre

- große Bedeutung des Konsistoriums als selbstständige Vertretung der Kirche

- aus Pastoren und Ältesten

- Überwachung der Sittenzucht

- Strafen: öffentliche Abbitte; weltliche Strafen bis zur Hinrichtung

- Legitimität staatlicher Zwangsgewalt zur Bekämpfung religiöser Delikte

- 1553: Verbrennung von Servet in Genf

- Selbstständigkeit der Kirche gegenüber der weltlichen Obrigkeit

- Indienstnahme der weltlichen Obrigkeit für die Kirchenzucht, nicht umgekehrt
 

Calvinismus in der Diaspora

- zunächst geringere Möglichkeiten zur Ausbildung der Organisation und Kirchenzucht des Calvinismus in Ländern, wo er nicht zur Staatskirche wurde

- dort verfolgte oder nur geduldete Minderheit

- aber Ausbildung wichtiger Verfassungsinstitutionen und Rechtsprinzipien

- Synodalverfassung der französischen Hugenotten

- übergemeindliche und vom Staat unabhängige Organisationsform

- Übernahme in den Niederlanden, am Niederrhein und in Schottland, von da aus in den englisch-amerikanischen Presbyterianismus

- Entwicklung eines individuellen Widerstandsrechts und spezifisch calvinistische Umformung der alten Idee der Volkssouveräntität in katholischen Ländern:

- Unterordnung des Staats unter die Souveränität Gottes; daher Pflicht der Gläubigen zum Kampf gegen die irrgläubige Obrigkeit und Ersetzung durch eine Rechtgläubige

- in der englischen Revolution des 17.Jh. tragende Idee; Nachwirkung bis heute in Westeuropa und Nordamerika

- in Deutschland: calvinistische Kirchenwesen unter bestimmenden Einfluß des landesherrlichen Kirchenregiments

- dadurch ähnliche Organisationsform wie bei den lutherischen Landeskirchen

- obrigkeitlich reglementierte Sittenzucht wie in lutherischen Territorien
 

Calvinistische Landeskirche in der Kurpfalz

- bis in die späten 70er Jahre erstes und einziges calvinistisches Territorium

- Einführung über 10 Jahre:

- 1561: persönliches Bekenntnis des Kurfürsten Friedrich III.

- 1571: Erlaß der kurpfälzischen Presbyterial- und Synodalordnung

- Entstehung eines eigenständigen, den lutherischen Kirchen nahestehendes Kirchenwesen

- Reinigung der Kirchen von Bildern und Altären außer schmuckloser Altartisch

- Vereinfachung der Liturgie

- Abschaffung aller lateinischen Texte und Gesänge

- 1563: Heidelberger Katechismus von Zacharias Ursinus und Kaspar Olevian

- Übereinstimmung mit Calvin in Abendmahlslehre, Christologie und puritanischer Auslegung des Dekalogs

- aber keine Rezeption der Prädestinationslehre, Sittenzucht und Kirchenordnung

- 1571: trotz Einrichtung von Presbyterien und Synoden durch Kurfürst Friedrich keine wirkliche Unabhängigkeit der Kirche von der Gewalt des Landesherrn geschweige denn breite Beteiligung der Laien
 

Durchsetzung des calvinistischen Kirchenwesens

- Kurpfalz: zunächst nur geringe Resonanz in der kurpfälzischen Bevölkerung

- aber Luthertum in der Kurpfalz nur wenig verfestigt

- daher Übergang zum Calvinismus relativ problemlos

- Oberpfalz: lutherische Reformation hatte starken Rückhalt

- adeliger Widerstand gegen die Umgestaltung des Kirchenwesens

- konfessionelle Opposition verband sich mit dem Widerstand gegen die territoriale Einbindung in den Kurstaat

- Reichsadel des Südwestens, traditionell mit dem Heidelberger Hof lehens- und dienstrechtlich verbunden machte die Calvinisierung nicht mit

- Entfremdungsprozesse, die erste Ende des Jahrhundert überwunden wurden
 

Calvinismus am Niederrhein

- in den Vereinigten Herzogtümern Kleve, Jülich und Berg sowie der Grafschaft Mark, in den großen Reichsstädten Köln und Aachen, z.T. in kurkölnischen Territorien

- 'Kirche unter dem Kreuz': geheime calvinistische Gemeinden

- dadurch straffe Organisation mit großer Beteiligung der Laien

- stärkte die Widerstandskraft

- 1571: die heimliche Gemeinde zu Köln konnte trotz hartem Eingreifen des Kölner Rats nicht beseitigt werden

- Ausbau einer übergemeindlichen Ordnung: Presbyterien der Einzelgemeinden, Classicalkonvente in einem Kirchenbezirk, Synoden, Generalsynode

- starke Beteiligung der Laien

- organisatorische Verbindung mit den Gemeinden in den Niederlanden