Liebe Schwestern und Brüder liebe Gäste,
einige werden ihn kennen, Roman Polanskis Film "Der Pianist". Er zeigt zu Beginn den polnischen Juden Wladyslaw Szpilmann, wie dieser im Tonstudio des Warschauer Rundfunks an einem Flügel sitzt und Chopin spielt. Sein Gesicht strahlt eine selbstvergessene, ruhige, fast gelassen-heitere Aufmerksamkeit aus. Da kracht mitten in das Spiel eine deutsche Fliegerbombe, splitternde Balken, klirrende Scheiben. Die Geschichte eines unvorstellbaren Martyriums beginnt, im Warschauer Ghetto und in den Ruinen der zerschossenen Stadt. Im Winter 1944/45 liegt er schließlich auf dem Spitzboden eines halb zerschossenen Hauses, der Körper ein Wrack. Nur das Gesicht schaut noch aus einem Bündel von Lumpen hervor... Ein Mensch im physischen Überlebenskampf. Eher leise und doch eindringlich vermittelt der Film dem Zuschauer eine Ahnung davon, wie hauchdünn das Eis der Zivilisation ist, auf dem wir uns bewegen; wie fragil die Welt des Guten ist, die Welt von Anstand und Charakter. Etwa wenn die Brutalisierung des Kampfes um das nackte Überleben ehrbare Familienväter zu prügelnden Ghettopolizisten werden lässt. Der Film zeigt, wie zerbrechlich die Welt des Schönen, der Musik und der Ästhetik ist, die wir uns schufen.
1. Erinnern - eine Gedankenreise in die Vergangenheit? Heute, am Volkstrauertag gedenken wir der Toten der Kriege und aller Opfer von Gewaltherrschaft. Nicht allein derer, die auf den Soldatenfriedhöfen Europas liegen, sondern auch und gerade der unbekannt Verscharrten, deren Namen keiner mehr nennt. Und wir gedenken der Überlebenden. Derer, denen Haus und Heimat, Vater und Mutter, Geschwister, Söhne und Töchter genommen wurden wie Wladyslaw Szpilmann. Derer, die in der Welt überlebten, ohne in ihr jemals wieder wirklich zu Hause sein zu können. Wir gedenken, erinnern uns. Ist es das, was bleibt, von den Opfern, den Tätern, den Zuschauern und Wegsehern? Es war einmal!? Ist es das, was von geliebten Menschen bleibt, die wir zu Grabe tragen müssen? Erinnerung des Vergangenen? Eine Gedankenreise in die Vergangenheit?
2. Erinnern - Tasten nach einer Zukunft! Paulus unterbricht unsere Vergangenheitsreise. Er gibt unserer Erinnerung eine völlig neue Richtung. Er lehrt uns, in unserem Gedenken nicht im Vergangenen gefangen zu bleiben. Gedenken, wie Paulus uns lehrt, tastet nach einer Zukunft. Es schaut nicht zurück, sondern voraus. Es bindet sich nicht an den Tod und die Toten, sondern sucht nach unvergänglichem Leben auch und gerade für die Toten: "Denn wir wissen: Wenn unsere irdische Behausung, unser Zelt, abgebrochen wird, so haben wir einen Wohnung, die Gott uns schenkt, ein ewiges Haus im Himmel, nicht von Menschenhand gebaut." Denn wir wissen... Was wir wissen, auch wenn wir es nicht immer wahrhaben wollen: unsere Bauwerke sind einsturzgefährdet. Ein Orkan, eine Sturmflut, ein Erdbeben - und zurück bleiben Häuser, die zusammengefallen sind wie ein Kartenhaus. Denn wir wissen... Was wir wissen, auch wenn wir es gerne verdrängen: das Ende unseres Lebens ist jederzeit möglich. Auch in einem der sichersten Länder der Welt haben wir keinen Grund uns in Sicherheit zu wähnen, wie nicht zuletzt der Kofferfund im Hammer Bahnhof vor einigen Monaten verdeutlichte. Paulus setzt bei diesem Wissen an. Er vergleicht den menschlichen Körper mit einer baufälligen Hütte, die eines Tages abgerissen wird, mit einem Zelt. Um uns dann mit einem eindrücklichen Bild in die Kunst des christlichen Gedenkens einzuführen. Vergänglichkeit und Hinfälligkeit unseres Körpers werden hier nicht übergangen, nicht verdrängt. Die Opfer und ihre Leiden werden nicht übersehen. Krieg war und ist brutal. Der Schmerz über den Verlust eines lieben Menschen wird nicht ausgeblendet. Wir leben zwar - und das ist schön. Aber es ändert nichts daran, dass auch unser eigener Körper nichts als eine Hütte ist. Fitness-Studios und Wellness-Kuren mögen den Abriss verzögern, verhindern können sie ihn nicht. Ob wir einmal eines natürlichen oder unnatürlichen Todes sterben, ob als Opfer von Gewalt und Krieg oder im Kreis unserer Familie - wir wissen es nicht. Wir wissen nur eines: der Tod ist gewiss - nur seine Stunde ist ungewiss! Das ist unser Wissen. Die Geschichte des hinter uns liegenden 20. Jh. hat allerdings schmerzvoll gezeigt: dieses Wissen um den Tod, um den eigenen sowie um den fremden, macht den Menschen nicht menschlicher. Denn wir wissen... Paulus geht mit seinem Wissen über unser Wissen hinaus. Überschreitet die Todesgewissheit, durch ein maßlos scheinendes Wissen. Es ist ein Wissen, das nicht an unserem Erinnerungsvermögen noch an unserer Vergänglichkeit Maß nimmt, sondern an Gottes Ewigkeit.
3. Tiefgründiges Zeichen der Hoffnung Wo uns nur mühsam gelingt, unsere vergänglichen Körper als irdische Abrisshütte vor Augen zu haben, spricht Paulus vom himmlischen Leib als einem unvergänglichen Haus. Wo wir nur den vorzeitigen Abbruch sehen, das Leben als Fragment, da redet Paulus von Vollendung. Wo wir mit unserem Gedenken, mit unserer Trauer, die Opfer der Kriege und unsere Toten in der Vergangenheit beheimaten, da spricht er von ihrer Zukunft. Einmal werden wir keinen Platz mehr auf dieser Erde haben. Kein Dach über dem Kopf, keinen Boden unter den Füßen. Dann zählt nicht mehr, was wir gebaut, geplant, gelernt und geleistet haben. Dann zählt, was ein anderer für uns gebaut, geplant und geleistet hat. Dann haben wir dieses andere Haus, das andere Dach über dem Kopf, diesen anderen Boden unter den Füßen. Gebaut von der Hand Gottes. Diesen Ort hat Paulus vor Augen, wo Fremde und Einheimische einträchtig beieinander wohnen, wo Opfer und ehemalige Täter auf der Bank vor dem Haus sitzen, wo Männer Frauen schützen, Kinder die Alten ehren, Tiere Ruhe vor den Menschen haben. Unsere Sehnsucht richtet sich auf dieses Haus. Wir möchten einziehen in diese Wohnung, wo wir zutiefst geborgen und angenommen sind, wo es nichts Vorläufiges gibt, keinen immer neuen Aufbruch, kein unstetes Wandern mehr. Paulus spricht aber nicht von Sehnsucht, sondern von Wissen. Woher wissen wir, dass es diesen unvergänglichen, himmlischen Bau gibt? Wir wüssten nichts, wenn sich der Himmel nicht mitgeteilt hätte. Alle Informationen über das nachhaltige zu Hause im Himmel beziehen wir von Christus, der auf die Erde kam und "unter uns Wohnung nahm" (Jh 1,14), wörtlich: "unter uns zeltete" - in einer Hütte auf Abbruch. Wir wüssten nichts, hätte Jesus nicht die Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit menschlichen Lebens auf sich genommen. Wäre sein Körper nicht Karfreitag wie eine baufällige Hütte abgebrochen und Ostern von Gottes Hand neu aufgebaut worden. So aber sind wir Erwartete. Wir haben sein Wort: "Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen. Wenn es nicht so wäre, würde ich dann zu euch sagen: Ich gehe hin und bereite euch eine Wohnung? Und wenn ich nun hingehe, um euch Schutz und Geborgenheit bei Gott zu schaffen, dann werde ich auch wiederkommen und euch holen, damit ihr dort seid, wo auch ich bin. (Jh 14,2.3) Wir warten nicht auf das Eintreffen unserer schrecklichen Befürchtungen oder schönen Erwartungen. Wir warten darauf, dass Christus durchkommt und bleibt. Tiefgreifende Veränderung durch seine heilende Nähe schafft. Die Erinnerung der Zukunft, das ist der christliche Beitrag zum Volkstrauertag. Diese Hoffnung wurde und wird immer wieder als billiger Trost missverstanden und verdächtigt. Vielleicht aber zeigt sich gerade in ihr der letzte und tiefste Respekt vor der Würde der Opfer. Wie denn das? Weil die Erinnerung der Zukunft den Menschen in seiner Vergänglichkeit gerade nicht auf die Vergangenheit reduziert. Sie spricht den Opfern, den abgebrochenen Biographien, denen eine irdische Zukunft geraubt und zerschlagen wurde, eine Zukunft bei Gott nicht ab. Und was ist mit den Tätern? Die christliche Hoffnung behaftet den Menschen nicht bei seinem unvollendeten, in Schuld verstrickten Leben. Sie spricht auch den Tätern, die nach menschlichem Ermessen ihre irdische und himmlische Zukunft verwirkt haben, eine Zukunft bei Gott nicht ab.
4. Jesus richtet unser Leben indem er es zurechtbringt Warum denn das? Weil kein Mensch das Recht hat, sich zum Herrn über das Leben und den Tod eines anderen zu erheben. Am Volkstrauertag erinnern wir uns als Christen vor Gott der Opfer. Wir benennen vor Gott die Schuld der Täter. Aber wir verzichten auf ein letztes Urteil. "Denn wir müssen alle unsere Hüllen und Masken vor Christus ablegen, wenn wir vor ihm, dem Richter stehen, und jeder wird den Lohn empfangen, den er sich in seinem leiblichen Leben verdient hat mit allem, was er tat, es sei gut oder böse." Da gibt es eine Stelle, einen Ort, einen Platz, an dem es keine Deckung mehr gibt. Auch nicht für Menschen mit Einfluss und Macht. Nichts kann dann mehr unter den Teppich gekehrt werden. Dunkelmänner und Saubermänner werden enttarnt. Alles, was gedacht und getan wurde, liegt offen. Unrecht bleibt nicht unerkannt noch ungesühnt. Jeder empfängt seinen Lohn für das Gute oder Böse, das er im irdischen Leben getan hat. Die Stunde wird kommen, in der wir Verantwortung übernehmen müssen für das, was wir getan haben. Es wird nicht belanglos und nicht unwichtig sein, was wir in diesem Leben tun bzw. was wir unterlassen haben. Gott nimmt unser Lebenswerk ernst. Wir stehen in der Spannung zwischen Verantwortung und Getrostsein. Vielleicht so, wie Bonhoeffer sie beschreibt: "Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will… Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten." Jesus, unser letzter Richter, verlangt nichts Unmögliches. Wir werden vor dem Richterstuhl Christi nicht gefragt, ob wir die Erde gerettet haben, das Weltklima, den Regenwald, den Weltfrieden, die soziale Gerechtigkeit, so notwendig, unerlässlich und wichtig aller Einsatz für große Ziele ist! Jesus fragt ganz schlicht nach einem seiner geringsten Brüder. Fragt danach, was wir mit unseren Stärken und Schwächen, Irrtümern und Versagen angefangen haben. Vielleicht macht das uns wieder Mut, loszugehen und es auszuprobieren. Wir können nicht alles Leid und jede Gewalt aus der Welt schaffen, aber was wir schaffen können, sollen wir auch tun. Vielleicht gelingt uns ein kleiner Schritt dazu, dass sich im Herzen eines Menschen eine Wunde schließt oder wir können Menschen Schritte zur selben Geborgenheit führen, aus der wir leben. Wie also wird das sein, wenn wir endgültig der Wahrheit unseres Lebens begegnen? Ist das die letzte große Blamage, die tiefste Beschämung? Wer eigentlich wird dann bestehen vor dem unbestechlichen Blick desjenigen, der selbst zum Opfer wurde am Kreuz; vor dem Blick, aus dem uns die Opfer unserer Gleichgültigkeit, Trägheit und Gedankenlosigkeit ansehen? Und wer von uns wüsste nicht tief in seinem Herzen, wie es letztlich um ihn bestellt ist? Wie also wird das sein? Keiner kann es mit letzter Gewissheit vorweg sagen. Was wir wissen: Jesus, das Kind in der Krippe und der Gefolterte am Kreuz, lebte eine große Leidenschaft. Und die bestand nicht im Verurteilen und Vernichten. Er richtete das Leben der Menschen, indem er es zurechtbrachte. Und doch: Was uns heute im Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewalt Hoffnung in unsere Trauer bringt, lässt uns zugleich erschrecken. Denn das Wort vom Richterstuhl wird auch uns nicht erspart. Wir müssen alle offenbar werden. Alle: Also auch du und ich. Wie wird das sein? Nach allem, was wir von Jesus wissen, so dass er auch unser Leben richtet, indem er es zurechtbringt, schön macht, aus dem Bruchstückhaften zur Vollendung führt. Vielleicht so: Du hast dein Leben darzulegen. Was dir geglückt ist. Was trotz mancher Anstrengung ein Stückwerk blieb. Was dir misslang. Deine "guten Taten" werden hinterfragt. "Ja, es ist wahr, aber...", willst du einwenden. Doch das "Aber" ist dir aus der Hand geschlagen. Da wird der Richterstuhl gerückt. Du schaust hoch. Der Richter steht auf. Er kommt auf dich zu. Du kennst ihn. Es ist Christus, du siehst die Nägelmale an seinen Händen. Er steht vor dir, beugt sich nieder und nimmt dich in seine Arme. Dann sagt er: "Ich kenne dich ganz genau. Und ich liebe dich. Für dich bin ich in leidender Liebe am Kreuz gestorben. Du gehörst zu mir." Dann geht er zum Richterstuhl zurück und schließt deine Akte.
5. Ein Haus, nicht von Menschenhand gebaut Am Ende des Films von Roman Polanski sitzt Wladyslaw Szpilmann wieder an seinem Flügel im Tonstudio des Warschauer Rundfunks. Er spielt mit unveränderter Brillanz Chopin. Es klingt als sei zwischen dem Anfang und diesem Ende nichts geschehen. Alles nur ein böser Traum? Könnte man fast meinen, wenn da nicht das Gesicht des Pianisten wäre. Ein Lächeln, das ausgelöscht wird von der unerträglichen Qual der Erinnerung. Das Gesicht verrät dem Zuschauer, dass Szpilmann in der Welt, die ihm vertraut war, nicht mehr ungebrochen zu Hause sein kann. Die Musik ist wie die Erinnerung an eine Heimat, die ihm brutal zerschlagen wurde. Und doch spielt er wieder Klavier. Er weiß nun, wie dünn das Eis der Welt des Guten und des Schönen ist, das unter ihm brach. Er weiß, wie vergänglich die irdischen Hütten sind, in denen wir leben. Er hat die Welt der brutalen Vernichtung menschlichen Lebens erfahren müssen. Aber - er überlässt sich ihr nicht. Er spielt wieder Klavier. Woher wohl nimmt ein Mensch, den die Welt des Todes so unausweichlich umstellt hatte, die Kraft weiter zu leben? Ahnte Wladyslaw Szpilmann etwas davon, dass auf uns ein Haus wartet, nicht mit Händen gemacht? |