Der Glaube
Die evangelisch-lutherischen Kirchen, die es überall in der Welt gibt, sind die einzigen großen christlichen Kirchengemeinschaften, die sich nach einem Manne nennen. Die anderen nennen sich katholisch, orthodox oder reformiert usw. Sind wir damit nicht in Gefahr, in eine Art von menschlicher Heldenverehrung zu verfallen, statt uns allein an die großen Wahrheiten des Evangeliums zu binden? Nein! Wenn wir unsere Berufung auf Luther recht verstehen, so binden wir uns damit an keinen Menschen. Wir sind allein an Jesus Christus gebunden, Luther mit uns. Er war ja kein Religionsstifter, sondern ein Knecht seines Herrn, sonst nichts. Jeder Verehrung, die nur seiner Person gilt, steht der wirkliche Luther selbst im Wege.
Und doch ist es ein unermeßlicher Reichtum, den wir vor anderen Kirchen voraus haben, daß wir uns in diesen Menschen Luther immer wieder versenken können. Er ist nicht nur eine Heldengestalt der deutschen Geschichte. Das ist er auch, und eine der größten. Er ist auch nicht der Verfasser unbedingt maßgeblicher Lehrbücher. Wir sind nicht an seine Meinungen wie an unfehlbare Lehrsätze gebunden. Luther selbst hat seiner Kirche immer wieder alle Freiheit von seiner Person ausdrücklich gegeben, freilich nur eine Freiheit zum Evangelium hin, nie vom Evangelium weg. Er ist kein Heiland, kein Christus für uns, sondern, ein beispielhafter Christ. Er hat uns vorgelebt, vorgeglaubt, vorgebetet wie kein anderer, zwar in erdgebundener Menschlichkeit, aber tief wahrhaftig und aus den Quellen göttlicher Kraft gespeist. Darum ist sein Ringen und Glauben nichts Vergangenes, sondern etwas lebendig Gegenwärtiges. Und die Besinnung darauf tut uns einen unentbehrlichen Dienst. Denn Anfechtung lehrt nicht nur nach Luthers schöner Übersetzung von Jes. 28, 19 - aufs Wort, sondern auch aufs Vorbild merken.
Ich will versuchen, Luthers Glauben in seiner zeitlosen, Lebendigkeit auf drei möglichst kurze und einfache Formeln zu bringen.
1.
Luthers Glaube ist u n b e d i n g t e r G l a u b e. Er kennt in der Frage nach Gott und nach der Stellung des Menschen zu Gott kein Wenn und kein Aber, kein Einhalten auf dem einmal beschrittenen Wege. Dafür ist sein ganzer Lebensgang ein einziger großer Beweis.
Freilich, unsere landläufigen, aus den Kindertagen haften gebliebenen Vorstellungen von Luthers Entwicklung, namentlich seinen Klosterkämpfen, machen es uns oft nicht leichter, sondern schwerer, das zu verstehen. Es gibt wohl kaum einen unter uns, den das herzbewegende Ringen des jungen Luther nicht immer wieder ungewöhnlich, ja fremd und erschreckend angemutet hätte. Ist das nicht etwas Abnormes, daß ein junger, gesunder und hochbegabter Mann sich bis aufs Blut abquält mit der Gottesfrage, sich nicht nur äußerlich kasteit und zermürbt, sondern immer wieder verzweifelt vor dem heiligen Gott zusammenbricht? War das nicht übertrieben? Was hatte dieser Mönch, der sich so gewissenhaft überwachte, denn schließlich für Schuld zu büßen? Ein gutes Kind seiner Eltern, ein fleißiger Schüler und Student, der bei seinen Freunden und Mitmenschen; wie wir aus vielen Zeugnissen wissen, nur Liebe und Zuneigungen erworben hatte, war es nicht sinnlos, daß er sich so vor Gott in seinen Sünden verloren glaubte? Ja, wenn er noch irgendeine große Schuld abzubüßen gehabt hätte, wie so mancher, der deshalb den sühnenden Schritt ins Kloster tat, und seien es auch nur Jugendleidenschaften gewesen, wie sie der junge Augustin hatte überwinden müssen; aber nichts von alledem. Luther hatte, wenn er immer wieder zur Beichte kam, so wenig handfeste und greifbare Sünden zu bekennen, daß seine Beichtväter ihn ausschalten, er solle sich doch nicht mit seinen Puppensünden abquälen. Wozu also dieses furchtbare Ringen? Wir werden den Eindruck des Unnötigen, ja Unnatürlichen, fast Krankhaften, nie überwinden, wenn wir uns nicht klarmachen, daß Luther sich dies mühselige Mönchsleben nicht ausgesucht und ausgedacht hat, sondern daß er nur den Weg ging, den ihn seine Kirche gewiesen hatte. Seit mehr als 1000 Jahren hatte sie allen, die es mit Gott und einem wahrhaft heiligen Leben ernst nahmen, geraten, ins Kloster zu gehen und dort in ständiger Selbstzucht und Buße unmittelbarer in der Nähe Gottes zu leben, als sie es im weltlichen Leben tun konnten. Und so tut es die katholische Kirche noch heute. Hunderttausende waren vor Luther den gleichen Weg gegangen, und viele hatten sich nicht weniger, oft schlimmer abgequält und kasteit. Sein einziger Unterschied von ihnen war, daß er den Weg zu Ende ging.
Die Frage, in die wir gemeinhin Luthers Klosterkämpfe zusammenfassen: "Wie kriege ich einen gnädigen Gott?" war nicht etwa, wie es uns manchmal erscheint, Luthers besondere Frage. Sie war ihm gestellt. Es war die Frage der Kirche vor ihm, die Frage der ganzen Christenheit. Luthers Besonderes war nur, daß er ihr bis auf den Grund standhielt und daß er die Antwort, die ihm seine Kirche gab, ernst nahm. Er nahm seine Kirche in allem, was sie ihm an Gebot und Trost zu sagen hatte, beim Wort. Das ist das Geheimnis seiner Klosterkämpfe. Wenn die Kirche ihm sagte: Du mußt dich tagtäglich vor Gottes Augen prüfen und bis in die geheimsten Schlupfwinkel deiner Gedanken und Empfindungen eindringen, dann tat er es und entdeckte dabei, daß wir Menschen es niemals zu einer vollen Wahrhaftigkeit vor Gott bringen, sondern daß wir über viele versteckte Gedanken gar zu gern mit schneller Hand eine Decke ziehen. Und wenn das amtliche Beichtgebot der katholischen Kirche damals hieß: Du mußt alle deine Sünden in der Beichte bekennen, so versuchte er das und wurde dabei inne, daß wir damit niemals zu Ende kommen und diese radikale Entschleierung vor Gott überhaupt nicht fertigbringen. Was nützte ihm dann die Beichte, wenn die darin verkündigte Sündenvergebung doch dieses niemals mögliche Bekenntnis aller seiner Sünden voraussetzte? Und wenn ihm seine mönchischen Oberen sagten: Du hast nun im Kloster einen höheren Weg zu Gott gefunden, denn da kannst du viel öfter und ganz anders als im weltlichen Leben dein ganzes Innere in Augenblicken reiner Liebe zu Gott erheben, dann versuchte er auch das. Er brachte es zu tiefen Erlebnissen, in denen er sich zu Gott erhoben fühlte: Aber reine Gottesliebe? So etwas gibt es im Menschenherzen gar nicht. Und was haben auch die höchsten Aufwallungen der Liebe für einen Wert, wenn nicht mein ganzes Leben eine einzige Hingabe an Gott und ein Sichverschenken an den Nächsten ist? Und wer will das von sich behaupten? Wenn der Vorzug und das Verdienst des Mönchsstandes auf diesen besonderen Akten der reinen Gottesliebe beruhen sollte, dann war dieser Vorzug eine grausame Täuschung.
Luther hat sich die Frage nach dem gnädigen Gott nicht ausgedacht und die Antworten auch nicht. Es war nichts Außergewöhnliches, sondern das für einen strengen katholischen Christen Gegebene, daß er ins Kloster ging und es mit den Formen mönchischer Heiligkeit versuchte. Außergewöhnlich war nur eines: daß er alles wörtlich und ernst nahm, die Frage und die Antworten. Er ging den Weg nur zu Ende und brachte es nicht fertig, auf halbem Wege stehen zu bleiben, sich zu beruhigen oder auf eine Lösung zu verzichten. Nur weil er nicht auswich, überwand er alle Antworten, die die 'katholische Kirche und das Mönchtum auf die Frage nach dem gnädigen Gott gegeben hatten. Und er fand die erlösende Antwort wiederum nicht anders, als daß er nun nicht mehr die Kirchenlehre, sondern Gott selbst beim Worte nahm und es zu glauben wagt, daß Gott den glaubenden Menschen mit aller seiner Sünde zum Kinde annimmt, wie er es ihm in Christus verheißen hat. Gott macht seine Zusage wahr ohne Wenn und Aber. Das war die befreiende Gewißheit für Luther, nachdem er durch alles Wenn und Aber der katholischen Lehre bis auf den Grund vorgedrungen war.
Dem, der diesen Weg überblickt, erscheinen die Klosterkämpfe nicht mehr als befremdliche Übertreibungen, sondern als Ausdruck einer unbeirrbaren Folgerichtigkeit. Schritt um Schritt, Zug um Zug ist Luther vorwärtsgegangen. Nie einen Schritt zu früh. Oft hat man eher den Eindruck: zu spät. Zehn Jahre nach dem Ablaßstreit ist er erst an den wirklichen Aufbau der neuen Gemeinden gegangen. Luther hat sich immer den Weg von der Notwendigkeit vorschreiben lassen und ist nie wild und voreilig drauf losgestürmt. Aber dann ging er auch unaufhaltsam und unwiderruflich.
Man könnte die ganze Lebensgeschichte Luthers erzählen und zeigen, daß sie in gar nichts anderem bestand, als daß er in jeder Lage standhielt und jeden Weg bis ans Ende ging. Er wich niemals auf bequemere Abwege aus. Als ihm am Ende der Reise nach Worms, die nach der Befürchtung vieler ein sicherer Weg in den Tod war, seine Freunde eine Zuflucht auf der Ebernburg Franz von Sickingens anboten, lehnte er ab, er ging den Weg zu Ende und wurde so der Held Deutschlands. Als ihn sein Kurfürst in den Schutz der Wartburg nahm, blieb er nur so lange, wie er es klar verantworten konnte, dann kehrte er gegen den strengen Befehl seines Beschützers heim und wurde so der Reformator von Wittenberg. Als die Bauern ihre sozialen Forderungen; die er selbst großenteils als gerecht anerkannte, als Folgerungen aus dem Evangelium ausgaben und damit die Sache Christi zu einer politischen Sache machten, trat er ihnen unbeugsam entgegen und verhinderte so, daß die Reformation zur politischen Revolution wurde. Als er sich schwer krank fühlte und sein Ende nahe glaubte, tat er noch um der Gewissen der anderen willen den Schritt, von dem er für sich selbst nur wenig erhoffte: er heiratete und wurde damit zum Gründer eines neuen Pfarrstandes und des evangelischen Pfarrhauses. Als die Gefahren, die der jungen Reformation drohten, einige der protestantischen Fürsten dazu trieben, Verteidigungsbündnisse gegen den Kaiser zu schließen, trat er mehrmals mit seiner Überzeugung dazwischen, daß ein bewaffneter Widerstand gegen das Oberhaupt des Reiches nicht erlaubt sei, und verhinderte so, daß die evangelische Bewegung Grundlage einer politischen Fürstenopposition wurde. Mit unerschütterlicher Festigkeit tat er das, was er als Gottes Auftrag erkannt hatte. Das war die Frucht seines Glaubens; de auf das Unbedingte gerichtet war. Er kannte keine Halbheiten, weil er wußte, daß vor Gott nichts Halbes gilt. Darum konnte er in jeder Lage durchhalten bis zum Ende.
2.
Luthers Glaube war W i r k l i c h k e i t s g l a u b e, ein Glaube, der die ganze Lebenswirklichkeit so nahm, wie sie ist und sich keine Täuschungen vormachte.
Das Erste und Entscheidende ist dabei für ihn, daß Gott Wirklichkeit ist. Man kann sein ganzes Leben nur verstehen, wenn man weiß, was das heißt. Wir Menschen, auch wir Christen, sind ja meistens erschreckend weit davon entfernt, Gott als die eigentliche, ja zutiefst einzige Wirklichkeit anzuerkennen. Wie anders müßte unser Leben dann aussehen! Aber uns kommen die irdischen, sichtbaren Dinge meistens doch viel wirklicher vor. Daß wir uns und den Unsrigen das tägliche Brot schaffen, im Beruf unseren Mann stehen und vorwärtskommen, Geld und eine anständige Stelle erwerben, daß wir als Gelehrte ein paar Bücher schreiben, die die Wissenschaft vorwärtsbringen, daß wir als Lehrer unseren Kindern ein gutes Wissen und eine feste Haltung mitgeben, daß wir unsere Pflichten als Glieder unseres Volkes treu erfüllen usw., das scheinen uns die wirklichen Fragen und Aufgaben unseres Lebens zu sein. Ihnen gegenüber muß Gott und der Umgang mit ihm in zweite Linie treten. Gewiß, er ist auch wichtig, aber er muß sich mit dem Rest unserer Zeit und Kräfte abfinden. Luther sagte genau umgekehrt: alles, was ich an Lebensaufgaben habe, ist gewiß auch wichtig. Aber zuerst wichtig und wirklich ist Gott, alles andere kommt erst in zweiter Linie. Mit Gott zu reden, war ihm etwas genau so Wirkliches, wie wenn er mit einem Freunde redete. Er kam nie auf den dummen Gedanken, daß man Gott seine Sorgen und Nöte und Bitten nicht vorzutragen brauche, da er ja alles schon selbst wisse. Natürlich weiß er das, aber ich habe ein Recht darauf, mit ihm darüber zu reden, ihm zu sagen, was ich zu sagen habe; und zu hören, was er mir zu sagen hat. Denn das darf man nicht vergessen: zum Gebet gehören zwei Dinge, Reden und Hören. Wie können wir denn erwarten, daß Gott uns hören soll, wenn wir nicht auf ihn hören? Meist ist es so: wenn uns die Not bis an den Hals steigt, dann denken wir rasch wieder ans Beten. Und wenn sich unsere Bitten nicht erfüllt haben, dann wenden wir uns enttäuscht und bitter ab: Gott hat uns nicht erhört. Haben wir uns denn auch nur ein einziges Mal gefragt, ob wir G o t t gehört haben? Luther sagt: "Wenn wir wollen, daß unsere Gebete erhört werden, müssen w i r zuerst G o t t e s Wort hören, sonst wird er uns nicht hören, und mögen wir weinen und schreien bis zum Bersten!" Als Melanchthon einmal schwer krank war, hat Luther Gott bestürmt, daß er ihm den Freund nicht nehmen dürfe, er könne ihn im Dienst am Evangelium nicht entbehren. Er redete dann mit Gott so zudringlich wie mit seinem besten Freunde, von dem er wußte, daß er ihm die volle Wahrheit rückhaltlos sagen dürfe. Es könnte fast ehrfurchtslos erscheinen und war doch gegründet auf die tiefste Ehrfurcht, die von Gott gelernt hatte, daß wir mit Gott reden dürfen wie Kinder mit dem Vater und daß uns, ob Gott gibt oder nimmt, nur übrig bleibt zu sagen: Der Name des Herrn sei gelobt. So redete Luther mit Gott, oft stundenlang, selbst und gerade in den Tagen schlimmster Arbeit und schwerster Entscheidungen. Wir dürfen uns dies stundenlange Beten nicht so vorstellen, als ob Luther nun immerfort Gedanken und Wünsche aus seinem Herzen hätte aufsteigen lassen; dann wäre auch ihm bald nichts mehr eingefallen. Sondern er sprach mit Gott und hörte auf ihn, indem er in der Bibel las und den Text durchging oder sich den Katechismus aufsagte und sein Leben wieder daran in Ordnung brachte. Aber dies alles ruhte auf der einen Voraussetzung, daß Gott nicht ein schöner Gedanke oder der unbekannte geniale Konstrukteur der Weltordnung oder ein würdiger Gegenstand erhabener Betrachtungen in stillen Stunden ist, sondern die Wirklichkeit schlechthin, hier und jetzt, gestern und in diesem Augenblick. Gegenüber diesem wirklichen Gott war ihm alles andere nur Spiel, nur Nebensache: Kaiser und Reichstag, Papst und Universitäten, Freund oder Feind. Auf diese eine Wirklichkeit ging er unbeirrt zu, sein ganzes Leben lang. Alles andere, was die Menschen sonst so ernst nehmen, waren ihm nur Wolken, die er auf dies Ziel hin siegreich durchschritt.
Aber genau so ernst nahm Luther nun auch alles andere in der Wirklichkeit. Gerade weil ihm Gott so unausweichlich wirklich war; wüßte er sich auch verpflichtet, unerbittlich zu prüfen, wie die Wirklichkeit aussieht, in der wir selbst vor Gottes durchdringenden Augen stehen. Wenn er sich ständig vor dem Angesichte Gottes wußte, dann verging ihm alle Lust, über die dunklen Abgründe im Menschenherzen einen bunten Schleier zu ziehen. Gott läßt sich dadurch ja doch nicht täuschen. Und darauf allein kommt es an. Es lohnt sich dann wenig, daß wir uns noch selbst über uns zu täuschen suchen. Ohne diesen alles riesenhoch überragenden Blickpunkt von dem wirklichen, lebendigen Gotte her, kann man Luthers niederschmetternde Urteile über den unrettbar an die Ketten der Sünde geschmiedeten Menschen nicht verstehen. Luther war alles andere als ein Pessimist. Die unbändige, lebenstrotzende Fröhlichkeit, die bei aller Schwermut aus ihm herausbricht, hat nichts von dem säuerlichen Humor eines' melancholischen Menschen. Sondern er deckte die Sünde im Menschen nur deshalb so unbarmherzig wie keiner seit dem Neuen Testament auf, weil Gott von uns die rückhaltlose Erkenntnis der Wirklichkeit verlangt. Schonungslose Ehrlichkeit ist hier das Beste, das Barmherzigste, weil so allein dem Menschen geholfen und der Weg in die Freiheit gezeigt werden kann. Einem Kranken kann ja der Arzt auch nicht helfen, solange er sich noch einbildet, gesund zu sein und keine Kur zu brauchen. Luther hat mit unheimlich tief dringendem Blick dies krampfhafte Gesundseinwollen vor Gott als die gefährlichste Krankheit der Menschheit, diese Überzeugung, doch nicht gar so schlimm zu sein, als ihre tiefste Sünde erkannt. Wenn er von der unrettbaren Verlorenheit der Menschen an die Sünde sprach, so stellte er sich die Menschheit durchaus nicht als eine Verbrechergesellschaft vor. Nein, das ist das Schlimmste, daß wir Menschen beleidigt sind, wenn man uns Sünder nennt, und daß wir uns viel zu anständig vorkommen; um Buße nötig zu haben: Wir messen uns im stillen, gar zu leicht danach, wie weit wir andere überragen, die wir für schlechter halten als uns selbst; und nicht nach dem Abstand, der uns von Gott und seinem Gebot trennt. Und so lange wir das nicht tun, werden wir kein Wort von Gott verstehen. Denn sein Wort über uns Menschen sagt immer das Doppelte: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig." Und: „Es ist hier kein Unterschied, sie sind allzumal. Sünder." Das ist die Wirklichkeit. Wenn wir Gott als Wirklichkeit erkennen, dann sehen wir auch unsere eigene Wirklichkeit. Das beides hängt unlösbar miteinander zusammen. Und daß wir den Umgang mit dem wirklichen, lebendigen Gott so erschreckend verloren haben, das kommt unzweifelhaft daher, daß wir uns selbst verloren haben und statt unserer menschlichen Wirklichkeit eine Strohpuppe, bekleidet mit unseren Wünschen und Illusionen vor uns sehen. Gott erkennen heißt auch seine Sünde erkennen. Und seine Sünde ehrlich sehen, heißt auch die Heiligkeit Gottes sehen. Wer von Gott redet und nicht weiß, daß er vor ihm ein tief schuldiger Mensch ist, der hat keinen Hauch von der Wirklichkeit Gottes verspürt. Man kann nicht die eine Hälfte oder die andere haben. Gottes Majestät und unsere Sünde, das ist erst zusammen die ganze Wirklichkeit: Luthers Glaube ist darum ein wirklicher Glaube, weil er beide Seiten in sich aufgenommen hatte.
Genau so nüchtern und wahrhaftig sieht Luther auch die Wirklichkeit der Welt. Wie über ihr eigenes Wesen, so haben sich die Menschen auch über die Welt zu allen Zeiten merkwürdige Phantasiebilder gemacht und mit ungezählten Theorien dies und jenes Stück der Wirklichkeit verdeckt oder einen schönen, täuschenden Schein über das Ganze ausgebreitet. Weil Luther Gottes Wirklichkeit so tief ins Herz genommen hat, darum ist er auch so königlich frei von Wünschen und Träumen, daß er die Welt so schauen kann, wie sie wirklich ist. Das gilt vor allem nach zwei Seiten.
Einmal: Wenn unser deutsches Volk einst gelernt hat, daß die Welt ein Land voll unendlichen Jammers ist, vor allem dort, wo der Mensch sie gestaltet, so muß es sich dafür bei Luther bedanken. Ich sage: bedanken. Denn so unbeliebt diese Erkenntnis ist, so viel Dank verdient der doch, der sie ausspricht und sein Volk lehrt. Denn er heilt uns von den Träumen und Illusionen, mit denen wir die Welt so gern umnebeln. Und wenn dann die großen Katastrophen und Prüfungsstunden kommen, dann fallen wir aus all den schönen Wolken und finden uns in der Welt nicht mehr zurecht. Wo sind dann die schönen Träume von dem Reifen der Völker, dem Fortschritt der Menschheit zu immer höherer Gesittung, dem Glück für die Massen durch die Segnungen der Technik und Zivilisation? Leiden, Kampf und Not gehören zur Wirklichkeit der Welt. Sie sind unser täglich Brot. Gott sei Dank, nicht sie allein! Es gibt viel Freude und Schönes auf der Welt. Aber Unrecht und Not sind die unabtrennbaren Begleiter der schuldbeladenen Menschheitsgeschichte.
Zur Wirklichkeit der Welt gehört auch der Tod. Luther hat vom Tode so natürlich gesprochen wie vom Leben. Es ist ihm nie in den Sinn gekommen; dies Stück der Wirklichkeit zu verschweigen oder beiseite zu schieben. Das Leben bekommt seinen Ernst vom Tode her. Dadurch wird alles unausweichlich, und darum ist der Tod ein besonderer Bote Gottes. Daß alles Irdische dem Tod verfallen ist, das macht die Wirklichkeit der Welt aus.
Aber Luthers Glaube umfaßt nun auch noch eine ganz andere Seite der Wirklichkeit, nicht nur Leid, Kampf und Tod, sondern er sieht auch die Macht des göttlichen Waltens inmitten dieser todverfallenen Welt. Gerade weil das Unrecht so oft in der Welt triumphiert, ist das Recht ein göttliches Wunder in der Welt. Weil die Menschen, sich selbst überlassen, die Welt zur Wüste machen würden, deshalb ist der S t a a t eine göttliche Ordnung und ein Wunderwerk in der chaotischen Welt. Gerade an Luthers Staatslehre offenbart sich sein bewunderungswürdiger Blick für die Wirklichkeit. Was haben sich die Menschen für Theorien über Ursprung und Sinn des Staats ausgedacht: er sei ein Vertrag zwischen einem Volk und einem Herrscher, Vertrag der ursprünglich freien Menschen untereinander, er diene hohen Zielen der Veredelung des Daseins usw. Luther erklärte ganz elementar, die Staatsordnung muß sein, weil die Welt voller Sünde ist. Sonst würde sich alles gegenseitig auffressen. Das ist die nüchterne Wirklichkeit. Darum hat Gott die wunderbare Ordnung des Staates und die Gewalt des Gesetzes und Schwertes in die Welt hineingestellt. Man muß hier Luthers Meinung ganz klar und sorgfältig erfassen. Nicht etwa der Staat als solcher ist Sünde, sondern die Welt, d. h. die Menschen sind sündig. Selbstverständlich sind davon auch diejenigen, die im Staat Dienst tun, nicht ausgenommen. Aber die Staatsordnung selbst, auch wenn sie in der Hand fehlsamer und sündiger Menschen liegt, ist ein Wunder Gottes inmitten der zerrissenen Welt. Wären alle Menschen wirkliche Christen, so wären Staat und Rechtszwang überflüssig. Aber die wirklichen Christen sind dünn gesät. Das ist ohne alle Theorie eine ganz einfache und natürliche Staatsanschauung. Der Obrigkeit ist von Gott der Schutz und die Fürsorge für die Untertanen befohlen. Das ist nach Luther der schönste Dienst, den es nach dem Dienste am Worte Gottes gibt. Und den Untertanen ist Gehorsam und freudige Mitarbeit befohlen. Die Frage der staatlichen Form, über die man sich so viel den Kopf zerbrochen hat, ist dabei gleichgültig. Diejenige Form ist die beste, in der sich der Liebesdienst der Obrigkeit am ihrem Volke jeweils am besten verwirklichen läßt.
Und noch ein anderes Wunder sieht Luther in der Wirklichkeit der Welt: Gottes Leben und Weben in der Natur. Manchmal scheint es so, als sei es der Vorzug der Menschen außerhalb der Kirche, von dem Leben Gottes in der Natur zu zeugen. Wie erstaunt man dann, wenn man Luthers Schriften aufschlägt und mit einer Kraft und Leidenschaft, die kein Naturmystiker überbieten kann, Gott im Walten der Natur beschrieben sieht. Gott lebt für ihn in Baum und Blatt, im Feuer, im Wasser, im Stein. Gewiß haben das viele damals nicht verstanden und sich daran 'entsetzt. Das paßte so wenig zu dem üblichen Bilde Gottes, den man sich allzu kindlich wie einen großen und erhabenen Mann dachte, und den man von seiner Schöpfung streng unterschied. Aber Luther dachte auch hier zu Ende und scheute auch einen überraschenden und zuerst befremdlichen Ausdruck der Wahrheit nicht. Mit beispielloser Kraft hat er das Leben und Einwohnen Gottes in der Schöpfung durchdacht und veranschaulicht. Gott selbst ist der tiefste Grund der Naturwirklichkeit. Er durchlebt und durchwaltet die Welt.
Damit schließt sich der Ring: Wir waren davon ausgegangen, daß Gott für Luther die Wirklichkeit schlechthin ist, die alles andere überragt und in den Schatten stellt. Nun sehen wir, dieser Glaube Luthers greift bis in die Natur. Er umspannt alles.
Aber welche Risse und Sprünge finden sich in dieser Welt! Es ist Gottes Welt, getragen und durchwaltet von ihm, und doch eine Welt voller Sünde, Leid, Tod, Krieg, Chaos; gegen das Gott selbst im Staat einen Damm aufwerfen muß. Was ist das für ein Gott; der solche Widersprüche offen läßt? Ist diese Schau der Wirklichkeit nicht eine große Enttäuschung? Ein Selbstbetrug? Es kommt ja nie eine Antwort von drüben, so oft wir auch rufen! Jedenfalls kann man die Wirklichkeit dieses Gottes nicht s e h e n. Oft scheint alles dagegen zu sprechen, daß ein Gott am Werke ist. Vielleicht eher der Teufel, das Schicksal, der Zufall. Luthers Glaube war gerade darin wirklicher Glaube, daß er sich die Welt nicht zurechtmachte und nur das sehen wollte, was zu unserem Bilde von Gott paßt. Die Aufklärung sah später nur das Sinnvolle, den Fortschritt, das Harmonische in der Welt. Luther aber läßt diese Fragen offen und schaut die Wirklichkeit, wie sie ist. Das ist nur möglich, weil seinem Glauben noch ein dritter Zug eigen ist.
3.
Luthers Glaube ist w a g e n d e r G l a u b e. Luthers offener Blick für die Wirklichkeit mit allen ihren Tiefen und Spannungen hatte ihm deutlich gemacht, daß Gott nicht zu schauen, zu beweisen, zu berechnen ist. Sondern der Glaube an ihn ist ein Wagnis, ein Sprung ins Dunkle. Er ist das Wagnis, diese verteufelte Welt doch als Gottes Schöpfung zu erkennen; das Wagnis, trotz unserer tiefen Verkettung- an die Sünde, an eine barmherzige, vergebende Liebe zu glauben; - das Wagnis, trotz Tod und Abschiedsschmerz, den wir immer wieder durchleben müssen, uns eines ewigen Lebens zu trösten. Luther hat diesen wagenden Sprung des Glaubens einmal sehr schön beschrieben: "Wenn Gott so mit uns handelte, daß er uns das Leben sehen ließe im Tode und zeigte unsrer Seele Stätte und Raum, Weg und Weise, wo sie auftreten und fußen sollte, wo sie auch hinfahren und bleiben sollte, so wäre der Tod nicht bitter, sondern wäre wie ein Sprung über einen flachen Strom, wo man auf beiden Seiten einen sicheren Grund und Ufer siehet und fühlet. Aber nun zeigt er uns davon nichts, und wir müssen von dem sicheren Ufer dieses Lebens hinüberspringen in den Abgrund, wo kein Fühlen noch Sehen noch Fußen noch Stützen ist, sondern frei auf Gottes Rat und Halt."
Nur eines hilft uns nach Luther bei diesem Sprunge von dem sicheren Ufer dieses Lebens in den Abgrund: Gott hat über diesem Abgrund das, Zeichen des Kreuzes aufgerichtet. Auch das Kreuz ist kein Beweis dafür, daß wir in Gottes Arme springen. Auch am Kreuze schauen wir nichts von Gottes Sieg. Sieht man es mit anderen Augen, so kann man ja auch sagen, daß am Kreuz ein grausam enttäuschter Schwärmer gestorben ist. Der Sprung auch auf das Kreuz hin bleibt ein blindes Wagnis. Aber Luther wagte ihn und wußte: wer ihn wagt, der bekommt eine Gewißheit, die von keinem Dunkel mehr vertrieben werden kann. Damit erschien ihm noch einmal eine ganz andere Wirklichkeit Gottes in der Welt. Auf eine verborgene und nur dem Glauben erkennbare Weise ist Gott dadurch in der Welt wirklich, daß er Mensch geworden ist in Jesus Christus. Für den Glauben wird darum das Kreuz der wichtigste Punkt in der Geschichte. Hier berühren sich Zeit und Ewigkeit. Was bedeutet daneben alles vergängliche Geschehen, mag es im Augenblick noch so gewaltig erscheinen?
Der Glaube ist also ein Wagnis auf Christus hin. Wer ihn hat, kann dafür alles einsetzen. Luther wagte, wo es nötig war, freudig dafür sein Leben. Dafür ist immer wieder das schönste Zeugnis der Brief, den Luther am 5. März 1522 an seinen Kurfürsten schrieb, als er gegen dessen Willen von der sicheren Wartburg nach Wittenberg zurückkehrte. Dieser Brief ist zugleich eines der großartigen Denkmale deutscher Sprache. Luther mußte auf der Reise durch das Gebiet seines großen Feindes, des Herzogs Georg von Sachsen, ziehen. Er schrieb seinem Kurfürsten, daß ihm das nicht die geringste Furcht mache. Er wäre auch nach Worms hineingegangen und selbst "wenn ich hätte gewußt, daß so viel Teufel auf mich gehalten hätten als Ziegel auf den Dächern sind, wäre ich dennoch mitten unter sie hineingesprungen mit Freuden". Nun ist aber Herzog Georg viel weniger als ein einziger Teufel, und Luther denkt nicht, vor ihm zurückzuweichen und will hineinreiten, "wenn es gleich neun Tage eitel Herzog Georg regnete und ein jeglicher wäre neunfach wütender, denn dieser ist. Er hält meinen Herrn Christum für einen Mann aus Stroh geflochten." "Ich komme gen Wittenberg in einem gar viel höheren Schutz denn des Kurfürsten." Und eher will er den Kurfürsten schützen als der Kurfürst ihn, denn "wer am meisten glaubt, der wird hier am meisten schützen. Dieweil ich denn nun spüre, daß Ew. Kurfürstliche Gnaden noch gar schwach ist im Glauben, kann ich keineswegs E. K. G. für den Mann ansehen, der mich schützen oder retten könnte." Der Kurfürst soll sich keinerlei Nachteil oder Gefahr durch Luthers Sache zuziehen. "Denn Christus hat mich nicht gelehrt, mit eines anderen Schaden ein Christ zu sein." Und am Schluß wiederholt er's noch einmal: "Wenn E. K. G. glaubten, so würden Sie Gottes Herrlichkeit sehen, weil Sie aber noch nicht glauben, haben Sie auch noch nichts gesehen. Gott sei Lieb und Lob in Ewigkeit. Amen." Christus, Christus, Christus ist also Anfang, Mitte und Ende seines Glaubenswagnisses.
Luther wagte aber noch mehr als sein Leben. Er wagte sein Volk. Es war für ihn zeitlebens die schwerste Anfechtung, daß er vor der Frage stand: Hast du allein recht gegen die unzähligen Theologen und Gläubigen der katholischen Kirche aus mehr als 1000 Jahren? Bist du nicht selbst der Verführer? Predigst du nicht deinem Volke einen falschen Weg? Er mußte es aber wagen, allein zu gehen und sein Volk zu führen im Vertrauen auf seine Erkenntnis des göttlichen Wortes, im Vertrauen auf seinen Herrn Christus. Er wagte damit nicht nur sich selbst, sondern auch die Seele seines Volkes. Aber er mußte seinen Weg zu Ende gehen.
So schließen sich die drei Züge zusammen: Luthers unbedingter Glaube, der den einmal beschrittenen Weg zu Ende ging und dort, wohin Gott ihn gestellt hatte, standhielt, ist kein Weg der Sicherheit, sondern ein immer neues Wagnis; und dieses Wagnis gründet sich auf die ihm im Glauben gewiß gewordene Wirklichkeit Gottes.
Heinrich Bornkamm, aus der "Luthers geistige Welt"
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